Deutschland und sein Nachbarland Frankreich stehen sich in vielem nahe, nicht nur geographisch. Doch es gibt auch kulturelle Unterschiede. Unternehmen, die in beiden Ländern tätig sind und sowohl französische als auch deutsche Talente beschäftigen, sollten die Eigenheiten kennen.
Emilie Martin hat sich mit den Unterschieden von deutschen und französischen Talenten und den sich daraus ergebenden Herausforderungen für Personalchefs beschäftigt. Die gebürtige Französin arbeitet seit vielen Jahren grenzübergreifend. „Durch meine 15-jährige Erfahrung in beiden Ländern habe ich festgestellt, dass es viele Unterschiede gibt. Die Franzosen und die Deutschen ticken ganz anders, obwohl sie nah beieinander wohnen“, sagt Martin.
In einer Studie, dem HR-Barometer, betrachtet die Vorständin von Corrente, seit Juli 2022 deutsche Tochtergesellschaft der Human-&-Work-Gruppe und Anbieter externer Mitarbeiterberatung sowie von Employee-Assistance-Programmen (EAP), die Herausforderungen, denen Personalchefs durch kulturelle Gepflogenheiten in verschiedenen europäischen Ländern gegenüberstehen. In die Studie sind Befragungsergebnisse von jeweils rund 800 HR-Verantwortlichen deutscher, französischer, spanischer und italienischer Unternehmen mit mehr als 50 Mitarbeitern eingeflossen.
Unterschiedliche Herangehensweisen
Martin fasst zusammen: „Wenn man die vier Länder vergleicht, sieht man zwei Dinge: Es geht um das Engagement der Mitarbeiter und auch um Inklusion.“ Beide Themen bewegen alle Länder. Doch, so Martin: „Die Weise, wie man beide Themen angeht, ist unterschiedlich.“ So stellt sie fest: Während sich die deutschen Personalverantwortlichen primär mit Fragen zu Zusammenarbeit, Teamzusammenhalt und Anerkennung der Leistung beschäftigen, geht es in den südlichen Ländern vor allem um den Sinn der Arbeit, das Gleichgewicht zwischen Arbeit und Privatleben, aber auch um Sicherheit und gesundheitliche Belastungen am Arbeitsplatz.
Als südliche Länder bezeichnet die Vorständin in ihren Ausführungen neben Italien und Spanien auch Frankreich. Letzteres nehme allerdings eine Position in der Mitte ein, wie sie veranschaulicht: „Wenn Deutschland rot wäre und Italien und Spanien gelb, dann wäre Frankreich orange. Frankreich liegt bei vielen Themen zwischen den drei anderen.“
Nach dem HR-Barometer kristallisieren sich, so Martin, aktuell drei Herausforderungen für HR heraus. Diese gehen die Personalverantwortlichen in den verschiedenen Ländern mit unterschiedlicher Priorität an.
1. Stärkung der Mitarbeiterbindung
Es gilt, Talente an das Unternehmen zu binden und ihre Motivation zu stärken. Dieses Ziel hat hohe Priorität angesichts von Big Resignation, Quiet Quitting, Talentflucht und -knappheit. Dass sich Mitarbeiter mit ihrem Unternehmen identifizieren, ist für Martin essentiell: „Das ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass sie sich bei ihrer Arbeit engagieren.“
Viele HR-Verantwortliche haben das erkannt und beabsichtigen laut der Studie, sich in den kommenden zwölf Monaten vorrangig auf die Mitarbeiterbindung zu konzentrieren. „HR muss mehr in Richtung Talente denken“, sagt Martin. Vor allem in Frankreich sieht sie derzeit einen gesellschaftlichen Wandel, den Deutschland schon früher durchgemacht hat: „Früher hat man in Frankreich für die Arbeit gelebt, heute soll sie Spaß machen, und der Lohn soll ermöglichen, sich Lebenswünsche zu erfüllen.“ Das private Leben bekommt somit eine stärkere Gewichtung.
Mitarbeiterbindung gelingt, unabhängig in welchem Land, vor allem durch:
- Stärkung des Teamzusammenhalts: Dies hat für 33 Prozent der europäischen Personalverantwortlichen Priorität, besonders ausgeprägt in Frankreich (38 Prozent). Martin erklärt: „Teambuilding ist sehr wichtig. HR muss klare Ziele schaffen, früher für jede Abteilung, heute für das Gesamtunternehmen.“ Deutschland sei hier schon stark aufgestellt, die Talente seien resilienter als die südländischen. „Die Personalverantwortlichen in Frankreich sehen hier Nachholbedarf, das Team mehr ins Bewusstsein der Mitarbeiter zu rücken“, hat Martin erlebt.
- Sinnhaftigkeit der Arbeit: Ein Drittel (32 Prozent) der europäischen Personalchefs möchte seine Talente in die Definition der Unternehmensziele einbeziehen. Während 43 Prozent das in Deutschland als prioritär ansehen, sind es nur 29 Prozent in Frankreich. „Die Suche nach dem Sinn ist auch in Frankreich ein Thema, das sich weiter verbreitet“, stellt Martin fest und warnt gleichzeitig: „Wir haben gut ausgebildete Leute, die die Möglichkeit haben, international einen Job zu suchen. Daher ist es ganz wichtig, dass Mitarbeiter in ihrer Arbeit einen Sinn erkennen.“
- Wertschätzung: Insgesamt 30 Prozent aller Befragten legen hier einen Schwerpunkt: 34 Prozent der Personalleiter in Frankreich, 28 Prozent in Deutschland.
2. Inklusion
„Es gibt grundsätzlich ein Engagement, die Inklusion auf Europaebene voranzutreiben. Das finde ich wichtig“, freut sich die Vorständin. „Tricky“ sei, wie sie fortfährt, wie das Engagement der Inklusion in allen Ländern aufgebaut werden könne. Für deutsche Personaler sind Inklusion und Teamzusammenhalt schon länger ein Thema, doch auch in Frankreich werde zunehmend darauf geschaut.
Um respektlosem und diskriminierendem Verhalten vorzubeugen, müssen Personalchefs künftig europaweit verstärkt Warnsysteme etablieren und entwickeln. 42 Prozent der französischen Personalchefs behandeln diese Maßnahme vorrangig, aber nur 22 Prozent in Deutschland.
Auch die Frage der Einbeziehung älterer Fachkräfte beschäftigt die Personalchefs: Neun von zehn geben an, dass sie versuchten, ältere Angestellte so lange wie möglich zu halten.
3. Sensibilisierung der Führungskräfte für CSR
Die Umsetzung von Aktionsplänen zur Wahrnehmung der gesellschaftlichen Verantwortung (CSR – Corporate Social Responsibility) durch Unternehmen ist eine weitere Säule der Mitarbeiterbindung sowie des Employer-Brandings. Neun von zehn Personalverantwortlichen (92 Prozent) geben an, dass dies zu ihren Aufgaben gehöre. Dabei steht der soziale Aspekt – dazu gehören Vorsorge, Arbeitsbedingungen und Innovationen – an erster Stelle, gefolgt vom Umweltaspekt. Allerdings haben drei Viertel der Personalverantwortlichen Probleme, die Führungsebene für diese Themen zu gewinnen.
Fazit: Rolle von HR verändert sich
Für Personalverantwortliche bedeuten die aufgezeigten Trends, dass sich ihre Rolle verändern wird. Erstens wird es für sie immer wichtiger, die Fähigkeiten und Entwicklungswünsche der Mitarbeiter genau zu kennen. Zweitens nimmt ihre Bedeutung bei Innovationen im Unternehmen zu, insbesondere in Bezug auf die Organisation und neue Arbeitsweisen.
Bei alledem sollten sich Personaler allerdings bewusst machen, dass viele Trends und Probleme in allen Ländern bestehen. Daher rät Martin: „Wir sind stärker, wenn wir Probleme übergreifend angehen. Wir brauchen eine globale Strategie, die lokale Unterschiede berücksichtigt.“
Kirstin Gründel