Ingelheim am Rhein: rechts eine kleine charmante Stadt und links viele große glasige Bürogebäude. Gefühlt halb Ingelheim nimmt der Pharmakonzern Boehringer Ingelheim ein, der umgeben von viel Grünfläche ist und mit seinem besonders gepflegtem Aussehen heraussticht. Doch ein Blick in den angrenzenden Wald zwischen vielen Pinienbäumen zeigt etwas Neues, ein Gebäude, das besonders herausragt: Das Digital Lab BI X. In diesem Gebäude tummeln sich die ITler des Familienunternehmens. Angefangen vom Recruiting dieser Mitarbeiter bis hin zur Arbeitsumgebung probierte Boehringer Ingelheim ganz neue Talentmanagementmethoden aus, wie Maria Castresana, Global Head of Talent, Leadership and Organizational Effectiveness, erzählt. „Die Gestaltung des Gebäudes – eine ehemalige Kantine – ist modern und zielgerichtet, mit Großraumbüros, Entspannungsmöglichkeiten oder Kanban Boards. Nicht nur optisch sind das für das 1885 gegründete traditionelle Familienunternehmen neue Schritte. „Boehringer Ingelheim als Arbeitsplatz galt bisher eher als Geheimtipp. Für IT-Experten waren wir nicht besonders ansprechend. Doch wir bieten viele tolle Möglichkeiten. Und diese galt es, der Zielgruppe lauter als bisher zu kommunizieren“, erläutert Castresana. Um vor eineinhalb Jahren Mitarbeiter für das Innovationlab, in dem unterstützende Technologieanwendungen für die Boehringer-Ingelheim-Produkte entwickelt werden, zu rekrutieren, mussten sie in der Kommunikation nachhelfen und neue Dinge ausprobieren. Mit einer neuen Employer-Branding-Strategie im Gepäck stürzten sie sich auf die sozialen Netzwerke und vor allem auf Netzwerke, in denen die Zielgruppe zum Beispiel als Scrum-Master unterwegs ist. „Wir haben eine besondere Kampagne entwickelt, damit diese Gruppe, die normalerweise nicht an uns denken würde, auf uns aufmerksam wird.“
Die Talentmanagerin blickt auf einige Herausforderungen zurück, angefangen mit dem Thema: Wo liegt Ingelheim überhaupt? Die Stadt liegt nah an Frankfurt, damit mitten in Europa und nur 30 Autominuten vom Flughafen entfernt. Das kam bei den internationalen Angestellten schon mal gut an. Im nächsten Schritt wollten die HR-Verantwortlichen potentiellen Talenten veranschaulichen, was es bedeutet, bei Boehringer Ingelheim zu arbeiten. An dieser Stelle kam das Leitbild des Unternehmens ins Spiel. Es drückt unter anderem aus, dass Innovation dem forschenden Familienunternehmen das Wichtigste ist. Genau das half der Talentmanagementabteilung mit ihren 22 Personalern. „So konnten wir Mitarbeiter ansprechen, die nicht einfach nur coole Apps entwickeln wollen, sondern sich auch mit unserem Leitbild identifizieren und einen Unterschied in der Gesellschaft erreichen wollen. Die Resonanz zeigt, dass die IT-Experten positiv überrascht sind, wie agil und flexibel ein traditionelles, familiengeführtes Pharmaunternehmen sein kann.“ Insgesamt hat der Rekrutierungsprozess ein Jahr gedauert. Mittlerweile arbeiten im BI X 70 Angestellte, das Ziel sind 80 Mitarbeiter.
„Wir können nicht überall agil arbeiten“
Trotzdem ist die Arbeitsweise nicht überall bei Boehringer Ingelheim so. „Wir können nicht überall so agil arbeiten wie im BI X. Wir haben eine Produktion, da laufen die Arbeitsprozesse nach sehr speziellen Kriterien ab, die durch die vielen regulatorischen Maßgaben vorgegeben sind. Man könnte sagen, eher konservativer“, stellt Castresana klar. In diesem Bereich sieht die Managerin in Zukunft auch ein Spannungsfeld, wie sich die Arbeit strukturieren lässt, so dass sowohl Innovationen, aber auch neue Technologien und agile Arbeitsmethoden integriert werden können. Dennoch ist für sie klar: „Die Produktion bleibt effizient und prozessorientiert – das wird nicht in Frage gestellt.“
Das gilt auch für die HR-Abteilung selbst: In HR-Services setzt der Bereich bei Infoservice, Payroll oder HR-Systemen auf Technologie und Standardprozesse, die aber mit Design-Thinking und Customer-Journeys bereichert werden.
Talente intern und extern identifizieren
Für die neuen Methoden des Talentmanagements schaffte die Abteilung sowohl intern als auch extern neue Strukturen. Die externe Seite beschäftigt sich mit der Arbeitgebermarke, der Rekrutierungspolitik und den zukünftigen Mitarbeiter. Intern stehen die Weiterentwicklung und Qualifizierung der Mitarbeiter auf der Agenda. „Wir haben diese Instrumente modernisiert und mit den Visionen verbunden“, so Castresana. „Für uns ist Talentmanagement das Wachstum der Mitarbeiter und der Firma. Wenn die Firma wächst, wächst auch der Mitarbeiter, wenn der Mitarbeiter wächst, wächst auch die Firma. So schließt sich der Kreis.“ In der Vergangenheit lag der Fokus stärker auf der internen Sicht, aber mit Blick auf den möglichen Fachkräftemangel und auf die Veränderung der Profile bewegt er sich immer mehr zur externen Seite hin. Vom Prinzip her sei aber beides wichtig.
Konkret haben sich die Maßnahmen Akquirierung, Mitarbeitergespräch, Führung und Weiterbildung verändert. Bei der Akquirierung neuer Talente legen sie viel Wert auf die Ansprache. „Wir erklären ihnen unser gutes Arbeitsumfeld und welche Benefits wir in Petto haben, zum Beispiel ein Fitnessstudio oder spezielle Programme für Eltern“, so Maria Castresana. „Die neuen Mitarbeiter sollen nicht nur verstehen, was für finanzielle Leistungen sie bekommen werden oder welche Services sie in Anspruch nehmen können. Vielmehr möchten wir vermitteln, wer wir sind, wie wir arbeiten und was wir gemeinsam erreichen wollen.“ Das Mitarbeitergespräch wurde zum Feedbackgespräch umgewandelt. Es gibt nicht mehr ein individuelles Ziel, sondern ein kollektives. Gemeinsam mit der Führungskraft wird besprochen, was das Beste für den Mitarbeiter und das Team ist.
An das kollektive Ziel wird auch der Bonus der variablen Vergütung gekoppelt. Das führte dazu, dass die Geschäftszahlen transparenter werden, was Castresana „als absoluten Vorteil“ sieht. Auch das Thema Führung hat sich bei den Ingelheimern verändert. „Führungskräfte erleben einen Wandel ihrer Rolle. Während sie früher eher die Steuerung und Umsetzung überwacht haben, motivieren sie nun die Mitarbeiter und zeigen ihnen die Richtung“, sagt die gebürtige Spanierin Castresana. Dazu bedarf es, dass sie mehr Coaching-Skills erlernen, bei denen sie durch verschiedene Maßnahmen unterstützt werden. Hier soll zukünftig weiterhin ein großer Schwerpunkt liegen, da der Konzern mehr in die Entwicklung von Mitarbeitern investieren will. Solche Workshops und Weiterbildungsmaßnahmen haben im Unternehmen allgemein an Wichtigkeit zugenommen. Das Ziel ist, „den Mitarbeiter für ein lebenslanges Lernen zu ermuntern“. Den Beschäftigten ist es selbst überlassen, wie viel und wann sie lernen wollen. Dennoch wird auf Team-ebene geguckt, in welche Richtung ich es noch entwickeln muss. Die Talentmanagementabteilung hat vieles in den letzten Jahren zur Verfügung gestellt, zum Beispiel LinkedIn-Learning und neue Lernformate in Learn-Kampagnen eingeführt.
Auf die Frage, was sie bei Boehringer Ingelheim bei der Talentsuche und -entwicklung noch ändern können, sagt die HR-Expertin: „Wir wollen die Entwicklung unserer internen Talente beschleunigen, sie schneller entdecken und auch fordern. Und wir möchten auch unsere internen Talente als Talent- Magnets stärker in die Gewinnung neuer Mitarbeiter einbeziehen“.
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