Die zunehmende Anzahl psychischer Erkrankungen rückt das Thema Wertschätzung wieder mehr in den Fokus. Depressionen oder Burn-out liegen bei Krankschreibungen nach Angaben der BKK inzwischen gleichauf mit Grippe oder Husten. Nur 60 Prozent der Mitarbeiter haben laut der neuesten EY-Studie das Gefühl, dass ihre Arbeit im Unternehmen gewürdigt wird. Eine Ursache: mangelnde Wertschätzung.
Gerade jüngere Mitarbeiter sind in diesem Fall schnell bereit, sich einen neuen Arbeitgeber zu suchen. Fehlende Wertschätzung bremst das Engagement, insbesondere in zunehmendem Alter. Wie der Wertschätzungsindex Deutschland zeigt, ist nur die Hälfte der Mitarbeiter mit der Art und Weise zufrieden, wie sie aktuell einbezogen, informiert oder wahrgenommen werden. Sandy Vogt, Arbeitspsychologin bei der ias-Gruppe, erklärt im Interview, wie wichtig Wertschätzung in Unternehmen ist und wie sie eine wertschätzende Kultur etablieren können.
Warum ist Wertschätzung so wichtig?
Sandy Vogt: Wertschätzung hat eine gesundheitsfördernde Wirkung. Sie schafft Vertrauen, motiviert und entspannt. Das reduziert Belastungen und beugt psychischen Erkrankungen vor, vor allem Depressionen.
Was passiert, wenn die Wertschätzung fehlt?
Sandy Vogt: Wer keine Wertschätzung erfährt, gerät in eine sogenannte Gratifikationskrise. Das heißt, Verausgabung und Belohnung werden als nicht ausgeglichen wahrgenommen. Der Mitarbeiter fühlt sich nicht in seinem Wert, zum Beispiel für das Unternehmen, gesehen. Diese Krise drückt sich durch Motivationsmangel und den Abfall von Leistungsfähigkeit aus. Sie belastet Körper und Psyche. Sie kann nachweislich zu Depressionen und Herz-Kreislauf-Erkrankungen führen
Wie zeige ich Mitarbeitern und Führungskräften Wertschätzung?
Sandy Vogt: Nicht nur loben, danke sagen, sich grüßen, sondern auch Interesse am Mitarbeiter als Mensch und an dessen Arbeit zeigen, eben zu wissen, was der Mitarbeiter leistet. Daneben wird die Bereitschaft der Führungskraft für Perspektivwechsel, Kritikfähigkeit und soziale Unterstützung vom Mitarbeiter empfunden. Sie sehen es zudem als Zeichen des Respekts, wenn die Führungskraft ihnen die Erwartungshaltung klar vermittelt – zum Beispiel, was die Aufgaben und Ziele im kommenden Jahr angeht – und sich bewusst und verbindlich Zeit nimmt für Gespräche mit dem Mitarbeiter.
Aber auch Führungskräfte brauchen Wertschätzung. Sie fühlen sich von Mitarbeitern vor allem durch respektvollen Umgang und konstruktives Feedback wertgeschätzt. Das bedeutet, dass Mitarbeiter nicht nörgeln, sondern auch mal sagen: „Ich kann eine Aufgabe auf die von Ihnen gedachte Weise nicht lösen, aber ich habe eine Idee, wie wir es schaffen können.“ Unter Kollegen drückt sich Wertschätzung vor allem durch respektvollen Umgang und Unterstützung aus. Oftmals beschränkt sie sich lediglich auf das eigene Team. Wer eine wertschätzende Kultur etablieren will, kann hier ansetzen.
Das kann der Arbeitgeber durch Möglichkeiten zum Austausch, zum Beispiel durch Gelegenheiten zum regelmäßigen Austausch untereinander, fördern. Zeit für Schichtübergaben, regelmäßige Teambesprechungen und die Einführung von „Shadowing Days“ – das heißt, einem Kollegen aus einer anderen Abteilung einen Tag über die Schulter schauen – unterstützen Austausch. Auch übergreifende Problemlösegruppen, bei neuen Projekten Zeit für Teamfindung einplanen und sich Zeit geben, um Erfolge gemeinsam zu feiern. Sowohl Mitarbeiter als auch Führungspersonen müssen sich von der Vorstellung befreien, dass Wertschätzung sich nur durch ständiges Lob und durch Komplimente ausdrückt. Bei dem Thema Wertschätzung geht es viel um Respekt füreinander. Dieser macht es möglich, belastbare Beziehungen aufzubauen. Gegenseitige Wertschätzung, Respekt und Vertrauen machen produktive Arbeit miteinander erst möglich. Das ist wichtig, denn Unternehmen brauchen Menschen, die sachliche Konflikte nicht direkt auf der Beziehungsebene austragen, sondern konstruktiv über den Inhalt diskutieren können, mit dem Ziel, die besten Lösungen zu finden.
Wie kann ein Unternehmen eine wertschätzende Kultur etablieren?
Sandy Vogt: In dem Wort Wertschätzung steckt die Botschaft, des anderen Werte zu schätzen. Dazu muss man sie kennen, die Werte, die dem Gegenüber wichtig sind. Es geht um eine Haltung zueinander – sie entsteht nicht allein über Obstkörbe oder durch gelegentliche Mitarbeiterevents.
Konkrete Maßnahmen wie das Abfragen der Zufriedenheit der Mitarbeiter, zur Beschaffenheit und Ausgestaltung des Arbeitsalltags können Aufschluss darüber geben, wie es um eine wertschätzende Kultur steht und ob sich durch vorgenommene Veränderungen eine neue Kultur der Wertschätzung durchgesetzt hat – und ob der Aufwand mit der Zeit Früchte trägt. Der Mitarbeiter muss spüren, dass es ernst gemeint und für den Arbeitgeber keine lästige Pflichtübung oder gar Marketingmaßnahme ist.
Wertschätzung bedeutet, an den eigenen Werten und am respektvollen Umgang miteinander festzuhalten – jederzeit. Das sollte jedem Einzelnen bewusst sein.
Welche Rolle spielt eine offene Kommunikation?
Sandy Vogt: Das A und O von Wertschätzung ist offene Kommunikation: Natürlich kann es keine Führungsperson in einem großen Unternehmen leisten, jeden Mitarbeiter einzeln nach seinen Werten zu fragen. Aber Befragungen und weitergehende Analysen, beispielsweise in Form von Workshops, können das. Sie sind eine gute und von den Mitarbeitern geschätzte Form, sich zu äußern, sich auszutauschen und gezielt in einen Dialog zu treten. Vor allem können sie zu konkreten Maßnahmen führen, die zeigen, dass sich die Führungskraft den Themen, die die Mitarbeiter bewegen, annimmt und dranbleibt. Das wird durchaus als Wertschätzung wahrgenommen. Wichtig ist, auch dann offen zu kommunizieren, wenn noch kein fertiger Plan besteht. Durch eine Befragung entstehen Erwartungshaltungen, die schnell enttäuscht werden, wenn zu lange mit der Bearbeitung und Kommunikation der Analyseergebnisse gewartet wird. Konkret heißt das, die Mitarbeiter auf dem Laufenden zu halten, auch wenn man sagt: „Wir brauchen noch eine Weile, um passgenaue Lösungen zu finden, die eure Situation tatsächlich verbessern. Es kann sogar sein, dass wir noch weitere Gespräche oder Workshops durchführen müssen, weil wir noch mehr Informationen brauchen.“ Tatsächlich ist jede Form von Kommunikation besser, als sie ganz zu unterlassen.
Können Menschen wertschätzendes Verhalten lernen?
Sandy Vogt: Ja. Wertschätzung hat viel mit Selbstwert und Selbstwirksamkeit zu tun. Das kann jeder aufbauen, zum Beispiel durch gezielte Coachings, in denen jeder Einzelne neben Empathie- und Sensibilitätsschulung auch Perspektivwechsel übt. Durch Reflexion sowie den Abgleich von Fremd- und Selbstbild lernt jeder, sich bewusst zu werden: „Was will ich sagen, wie sage ich es und wie kommt es bei meinem Gegenüber an?“ Wer seinen eigenen Wert kennt, weiß auch, wie er behandelt werden möchte. Das ist Basis dafür, wie er wiederum mit anderen umgeht. Dies kann er auch einfordern. Selbstwert und Wertschätzung sind untrennbar miteinander verknüpft.
Vorbildliches Verhalten spielt dabei eine große Rolle. Insbesondere Führungskräfte nehmen dabei eine wichtige Rolle ein. Sie dienen als Modell für ihre Mitarbeiter und andere Führungskräfte. Erlebt der Mitarbeiter, dass er wertgeschätzt wird, erhöht das seinen Selbstwert, und er geht auch wertschätzender mit den Kollegen um.
Wertschätzendes Verhalten hat einen positiven Dominoeffekt. Hat sich erst einmal eine Kultur der Wertschätzung etabliert, wird es immer schwieriger, sich abwertend zu verhalten. Wichtig ist dabei ein gewisses Maß an Standhaftigkeit: Auch wenn es mal etwas rauer zugeht, sollte jeder respektvoll bleiben. Jeder kann die Wertschätzung des anderen einfordern.