Zahlreiche Unternehmen hinken der derzeitigen Entwicklung des Talentmanagements weit hinterher: Immer noch verstehen viele unter dem Begriff „Talent“ vorrangig bestehende oder potenzielle Führungskräfte, mindestens aber hochqualifizierte Spezialisten und Experten. Entwickelt wird dieser Kreis meist mittels statischer, einmal konzipierter Talentprogramme. Dabei wandelt sich die Welt vielerorts massiv: In Wahrheit sind erfolgskritische Positionen und Tätigkeiten und damit Talente immer häufiger auf allen Hierarchieebenen eines Unternehmens vertreten – und dort nicht selten in größerer Zahl. Es ist Zeit, den Talentbegriff zu erneuern. Talente sind Mitarbeiter, die gleichermaßen durch ihre fachliche Qualifikation wie auch durch ihre persönlichen und sozialen Kompetenzen in der Lage sind, einen Unterschied zu machen. Sie nehmen Einfluss auf ihr Arbeitsumfeld und gestalten dies aktiv mit. Potenzialträger reflektieren das eigene Tun regelmäßig aus der unternehmerischen Perspektive und handeln dementsprechend. Viele Betriebe tun sich jedoch zunehmend damit schwer, diese unternehmerischen Eigenschaften zuzulassen und nicht durch Regeln und Hierarchien zu deckeln. So fehlt es mit steigender Tendenz vor allem in technischen oder produzierenden Funktionen an Nachwuchs genau an der Stelle, die das Rückgrat der deutschen Wirtschaft ausmacht: in den kleinen und mittelständischen Unternehmen.
Auch inhaltlich steht das Talentmanagement vor großen Herausforderungen. Angesichts einer sich immer schneller wandelnden Welt ist für Personaler immer weniger ermittelbar, welche einzelnen Tätigkeiten oder auch Führungsebenen in Zukunft benötigt werden und in welche Richtung sich die Talente entwickeln sollen. Eine aktuelle McKinsey-Studie prophezeit, dass bis 2030 – also in gerade einmal einer Dekade – 50 Prozent der aktuell von Menschen verrichteten Berufsarbeit in Deutschland komplett automatisiert, weitere 10 Prozent nahezu vollständig automatisiert sein werden. Parallel dazu kündigt sich ein gewaltiger, genereller Qualifizierungs- und Entwicklungsbedarf in der Mitarbeiterschaft vieler Unternehmen an. Personalexperten schätzen, dass im Schnitt mindestens ein Drittel ihrer Belegschaft massiv weiterentwickelt oder umqualifiziert werden muss – ein Upskilling von gigantischem Ausmaß.
Technologiekompetenz und Persönlichkeit sind gefragt
Für Personalverantwortliche bedeutet dies, sowohl die nötige Manpower und Qualität in der eigenen Abteilung sicherzustellen, als auch grundlegende Parameter im Talentmanagement neu zu justieren. Am Anfang steht zunächst ein mentaler Abschied vom Talentmanagement als statischem Prozess.
Das eigentliche Entwickeln von Talenten muss sich künftig weitaus mehr am echten, dynamischen Unternehmensgeschehen orientieren. Das heißt konkret: keine Classroom-Programme mehr, sondern ein Lernen und Wachsen an echten Aufgaben und realen Projekten. Und das innerhalb eines kulturellen Rahmens, in dem Fehler ausdrücklich erwünscht sind oder manchmal sogar unter Anleitung absichtlich erzeugt werden.
Programme mit mehreren Modulen, gleichen Inhalten und immer gleichen Kompetenzprofilen haben hingegen ausgedient. Stattdessen muss das Talentmanagement künftig laufend und dynamisch die wechselnden Anforderungen abbilden und sich den unternehmerischen Bedürfnissen anpassen.
Aber welche Kompetenzen lassen einen guten Mitarbeiter zu einem Talent werden? Talente sind Mitarbeiter, die zukünftig erfolgreich sein sollen, und nicht nur diejenigen, die in der Vergangenheit Erfolg hatten. Es geht hierbei im Kern um die Potenzialerkennung von Mitarbeitern. Die bisherige Berufsbiographie als hauptsächlicher Orientierungspunkt für Potenzialbestimmung ist bei weitem nicht ausreichend. Bei der Auswahl und Förderung von Talenten geht es immer mehr um grundlegende Kompetenzen, die eine gute Zukunftsprognose zulassen. An erster Stelle steht die persönliche Technologiekompetenz: Wie gut ist jemand sowohl mit aktuellen Technologien vertraut als auch in der Lage, künftige Möglichkeiten zu antizipieren und sich aktiv damit auseinanderzusetzen? Auf diese Weise werden jene Mitarbeiter identifiziert, die eine tragende Rolle dabei spielen können, den immer weiterlaufenden digitalen Wandel erfolgreich und kreativ zu bewältigen.
Weitere Schlüsselkompetenzen sind die Fähigkeiten, Probleme zu lösen sowie zu netzwerken und dabei die gemeinsamen Ziele über das persönliche Interessen zu stellen. Lifelong Learning, das heißt eigenständiges und kontinuierliches Lernen, zählt zu den Klassikern in jedem Kompetenzmodell. Neu ist sicherlich – zumindest in dieser Ausprägung – die Fähigkeit, das eigene Tun jederzeit bewusst zu reflektieren sowie Feedback zu geben und zu nehmen. Mehr denn je rücken damit in Zukunft Aspekte wie Haltung, inneres Setting und Persönlichkeit in den Mittelpunkt.
Der Mix aus intern und extern muss stimmen
Der Erfolg von Talentmanagement ist nicht zuletzt auch davon abhängig, wie hoch die Quote der Stellenbesetzung aus den eigenen Reihen ist. Unternehmen, die exponierte Positionen häufig oder gar ausschließlich mit externen Kandidaten besetzen, haben es schwerer, Potenzialträger dauerhaft für das eigene Unternehmen zu begeistern. Ein Verhältnis von 3:1 zwischen internen Potenzialträgern und Kräften, die auf dem Arbeitsmarkt rekrutiert werden, gilt, abhängig von der Industrie, als bewährte Richtschnur. Ein weiterer Vorteil ist, dass die bereits erwiesene kulturelle Passung der internen Talente schon nachgewiesen ist. Das Risiko, dass interne Kräfte in der neuen Funktion scheitern, ist deutlich geringer.
Kandidaten werden durch die Führungsebene ausgewählt
Schließlich ist zeitgemäßes Talentmanagement auch eine Frage der strategischen Platzierung. Als eigene Disziplin muss es direkt bei der Geschäftsleitung angesiedelt sein. In der Praxis wählen C-Level-Führungskräfte aussichtsreiche interne wie externe Talente im Sinne eines Promotion-Committees aktiv aus und schlagen sie dem Geschäftsführungsgremium vor. Dieses diskutiert anhand klarer und einheitlicher Kriterien und bestimmt einstimmig, wer in die engere Auswahl kommt – ein Einsatz, der sich mit Blick auf den Unternehmenserfolg nachhaltig bezahlt macht.