Frau Chung, Sie haben bei der Entwicklung von Tools mitgewirkt, die Organisationen, Führungskräften und Mitarbeitenden ermöglichen, gut mit der Digitalisierung umzugehen. Wie haben sich die Anforderungen im Arbeitsalltag und die Zusammenarbeit in Unternehmen verändert?
Hye-Jung Chung: Bereits seit einigen Jahren kommen digitale Technologien in der Kommunikation und im Arbeitsalltag verstärkt zum Einsatz. Die Coronapandemie hat bei vielen Unternehmen zu einem regelrechten Digitalisierungsschub geführt. Wir haben gespürt, wie nützlich digitale Technologien sein können, wenn es darum geht, physische Distanz zu wahren und gleichzeitig zu kommunizieren, um arbeitsfähig zu bleiben.
Jedes Unternehmen hatte allerdings unterschiedliche Voraussetzungen: Manche konnten auf Vorwissen und eine Kultur aufbauen, andere standen in Bezug auf Soft- und Hardware wie auch in Bezug auf das Mindset ganz am Anfang. Für Letztere hat sich die Zusammenarbeit gravierend verändert: Mitarbeitende mussten lernen, digital zu kommunizieren. Somit lernten sie zwangsläufig die Auswirkungen von digital bedingtem Stress kennen und mussten damit umgehen.
Welche Rückmeldungen bekommen Sie aus Unternehmen?
Hye-Jung Chung: Nach Anfangsschwierigkeiten hat sich in vielen Unternehmen die Zusammenarbeit während der Pandemie eingespielt. An die neue Form der Kommunikation beispielsweise über Videokonferenzen und andere digitale Arbeitsmittel haben sich die meisten gewöhnt. Allerdings wurde durch das erzwungene mobile Arbeiten auch schnell sichtbar, wo im Unternehmen Defizite in der Digitalisierung selbst und auch in einem gesundheitsbewussten Umgang liegen.
Aus diesem Grund kam es vermehrt zu erhöhtem Konfliktpotential. Umfragen in der Pandemiezeit zeigen, dass insbesondere die Abgrenzung zwischen Arbeit und Freizeit (Omni- und Dauerpräsenz) vielen Mitarbeitenden im Home-Office schwerfällt. Die neu gewonnenen Kanäle wie Chatfunktionen haben die Erreichbarkeit und somit auch das Risiko für mehr Ablenkung erhöht. Aber nicht nur diese Ursachen für digital bedingten Stress sind wahrnehmbar, sondern auch Aspekte wie die Nichtverfügbarkeit von benötigten Technologien oder Themen wie mangelnde Erfolgserlebnisse.
Die Mitarbeitenden erleben gleichzeitig Vorteile und Risiken beim Arbeiten mit digitalen Technologien, können diese zum Teil aber nicht konkret benennen, weil das Wissen um digital bedingten Stress noch nicht umfassend vorhanden ist.
Auch Führungskräfte stehen vor neuen Herausforderungen. Ihre Mitarbeitenden sind nicht mehr greifbar, und Leistung sowie Gesundheit müssen sie aus der Ferne beurteilen. Das bedeutet, dass Unternehmen eine neue Art der Führung brauchen, um Gesundheit und Produktivität zu verbessern. Zudem benötigen sie passende Werkzeuge, um mit den neuen Rahmenbedingungen umzugehen.
Warum ist es wichtig, das Thema digitaler Stress aufzugreifen? Wieso brauchen Mitarbeiter und Führungskräfte Unterstützung?
Hye-Jung Chung: Viele Unternehmen sind aktuell dabei, sich auf das „neue Normal“ vorzubereiten. Für einige Unternehmen wird hybrides Arbeiten der neue Alltag werden. Jetzt ist es wichtig, sich bewusst Zeit zu nehmen, Mitarbeitende und Führungskräfte gut für das neue Normal zu wappnen. Setzen Unternehmen digitale Technologien langfristig als Arbeitsmittel ein, dann sollten sie ihre Mitarbeiter im gesunden Umgang damit schulen. Sie müssen ein gemeinsames Verständnis aufbauen, um mögliche Risiken gezielt zu reduzieren.
Wie können Unternehmen dazu beitragen, digitalen Stress zu minimieren?
Hye-Jung Chung: Ein kompetenter Umgang mit digitalen Technologien erfolgt auf mehreren Ebenen. Unternehmen können dazu beitragen, den Stress zu reduzieren, indem sie ihre Führungskräfte schulen und Möglichkeiten schaffen, gemeinsam zu lernen. So befähigen sie Leader, mit gutem Beispiel voranzugehen und die Wichtigkeit des Themas in ihren Teams zu betonen. Sie sollten die Medienkompetenz ihrer Mitarbeitenden gezielt ausbauen, damit jeder das passende Handwerkszeug hat, um mit den neuen Anforderungen umzugehen. Und letztlich muss auch auf Teamebene ein gemeinsamer Umgang mit digitalen Technologien vereinbart und transparent gemacht werden, zum Beispiel, was Erreichbarkeitsregeln angeht.
Welche Lösungen empfehlen Sie, um beim Umgang mit Technologien zu unterstützen?
Hye-Jung Chung: Wir haben beispielsweise im Rahmen unserer Kampagne „Gewappnet in ein neues Normal“ ein Blended-Learning-Konzept entwickelt. Die Lernmodule umfassen Themen wie Technostress am Arbeitsplatz, mobile Arbeit, Monotasking und digitale Teamkommunikation und bestehen je aus einer Selbstlernphase und einem Onlineaustausch, um voneinander zu lernen und Wissen zu vertiefen. Darüber hinaus gibt es Transferaufgaben, die sukzessive im individuellen Arbeitsalltag geübt werden sollen.
Um das Thema langfristig zu etablieren und digitalem Stress kontinuierlich zu begegnen, bilden wir Digi-Coaches aus. Diese stehen als Ansprechpersonen für Mitarbeitende zur Verfügung, wenn es um digitalen Stress geht. Zudem sprechen sie das Thema proaktiv in Teams an und regen zur Selbstreflexion an.
Unsere Arbeitspsychologen und -psychologinnen unterstützen Unternehmen darüber hinaus dabei, ein digitales Leitbild zu entwickeln und zu verankern. Auf dieser Basis können konkrete Regeln zur digitalen Kommunikation auf Teamebene erarbeitet werden.
Auf welchem wissenschaftlichen Hintergrund beruhen die webbasierten Trainings?
Hye-Jung Chung: In alle Produkte sind Wissen und Erfahrung aus dem Forschungsprojekt „PräDiTec“ eingeflossen, das nach drei Jahren im März 2021 zu Ende ging. So konnten theoretisches Wissen und praktisches Know-how und Erfahrungen miteinander vernetzt werden.
Was denken Sie: Wie wird sich Kompetenzaufbau in Unternehmen weiter entwickeln?
Hye-Jung Chung: Es gehört bereits heute zu unserem Arbeitsalltag, flexibel mit veränderten Rahmenbedingungen umzugehen. Die Anforderungen nehmen stetig zu und verlangen uns allen ab, aus unserer Komfortzone zu kommen. Diese Phänomene werden wir nur bedingt beeinflussen können, weil sie zum Fortschritt und zur Weiterentwicklung gehören. Aber was Unternehmen tun können, ist, Mitarbeitenden mehr und bessere Ressourcen zugänglich zu machen, um mit veränderten Anforderungen umzugehen. Dazu zählen der Aufbau von Kompetenzen, aber auch ein Netzwerk. Das erreichen wir, indem wir aus Organisationen lernende Organisationen machen, denn eine gesunde Lernkultur ist notwendig, um zukünftig für Veränderungen wie die Digitalisierung gewappnet zu sein.
Das Gespräch führte Marie Schaefer, Marketing/Kommunikation, ias Gruppe.