„Wir sollten uns jede Lösung genau anschauen und fragen, was sie HR bringt“, sagte Joachim Diercks. „Markthygiene ist an dieser Stelle wichtig.“ Ein Beispiel: Erst kürzlich hat der Handelskonzern Amazon einen Algorithmus für das Recruiting aus dem Verkehr gezogen, nachdem es nicht gelungen war, Fehler beim Matchen von Bewerbern und Auswahlkriterien des Unternehmens und die permanente Benachteiligung einzelner Personengruppen durch das Programm zu beseitigen.
Algorithmen kommen heute an vielen Stellen in der Personalgewinnung zum Einsatz. „Das bietet sich gerade für digital affine Menschen an“, so Joachim Diercks. Arbeitgeber können Algorithmen für die Bewertung von Bewerbern nutzen, etwa für die Analyse von Sprache und Mimik. „Bei diesen Hilfsmitteln findet sich heute viel Nützliches, aber auch viel Diskutables“, resümierte Diercks. Sebastian Sellinat zeigte sich skeptisch bei der Frage nach der Verlässlichkeit der vorhandenen Lösungen für künstliche Intelligenz in HR-Prozessen. „Wir können solche Algorithmen als Hilfsmittel für die Vorselektion unter einer großen Zahl von Bewerbern verwenden“, sagte der HR-Artist, „aber wir sollten nicht das komplette Recruiting davon abhängig machen.“
Der Technologiekonzern ZEISS setzt Algorithmen für das Recruiting quasi in Laborversuchen ein, aber noch nicht in der Praxis. „Wir testen und experimentieren damit, denn Algorithmen können im Hinblick auf das Matching, aber auch auf die Effizienz spannend sein“, sagte Dr. Florian Mezger. „Algorithmen können uns bei der Analyse von Initiativbewerbungen helfen, wenn wir sie unseren rund 500 ausgeschriebenen Stellen zuordnen wollen.“ Zugleich müsse der Umgang mit Daten sehr sensibel sein. „Gerade bei personenbezogenen Daten aus dem eigenen Unternehmen ist Vorsicht geboten, denn das ruft sofort die Mitbestimmung auf den Plan“, so der Recruitingleiter.
Sebastian Rahm wies auf die Interessenlage der Bewerber hin. Viele Matchinglösungen am Markt seien fehlerhaft, weil sie Daten nicht richtig miteinander verknüpfen könnten. „Wichtig ist den Bewerbern, dass sie im Bewerbungsprozess ein ähnliches und ähnlich einfaches Erlebnis haben wie bei Onlinekäufen“, so Rahm. „In der Realität sehen wir in den Bewerbungsprozessen noch hohe Hürden und einen großen administrativen Aufwand, wenn ein Bewerber beispielsweise über ein soziales Medium und eine Stellenausschreibung auf einen Arbeitgeber zugeht.“ Die Unternehmen sollten die Komplexität solcher Prozesse herunterfahren, um mehr Interessenten für eine Stelle zu gewinnen. „Das erhöht im ersten Schritt die Quantität der Bewerbungen und senkt deren Qualität“, erläuterte Rahm. „Deshalb muss sich HR die Qualität der Bewerbungen im Nachgang holen.“
Konkret heißt das: Die Unternehmen sollten die qualitätssichernden Schritte der Recruitingprozesse an eine hintere Stelle rücken. „Interessenten sollten Bewerbungen schnell und einfach durchführen können und schon im Bewerbungsprozess erste positive Aha-Erlebnisse haben“, so Sebastian Rahm.