Noch heute kann sich Dieter Manz (Name geändert) an solche Nächte erinnern: Schweißgebadet schreckt er aus unruhigen Träumen hoch. Ein Gedanke jagt den nächsten, er muss noch so viel erledigen, und die Zeit rennt davon. Dabei ist er eigentlich kein Grübler, sondern eher ein Macher: Vom Handwerker hat sich der heute 61-Jährige zum Kaufmann in einem Unternehmen für Luft-und Raumfahrttechnik hochgearbeitet. Dass er sich irgendwann beruflich wie privat zu viel zumutet, gestand sich Manz lange nicht ein. „Ich habe gedacht, ich muss mich nur genug anstrengen. Bis dann vor drei Jahren der Zusammenbruch kam.“
So wie Manz geht es immer mehr Angestellten in einem Unternehmen. Bei über 42 Prozent aller Arbeitnehmer, die in Frührente gegangen sind, waren psychische Gründe die Ursache, wie Daten der Deutschen Rentenversicherung (DRV) zeigen. „Frührente mit Ende 50 kam für mich nicht in Frage. Aber ich wusste nicht, was ich mir noch zutrauen konnte“, sagt Manz.
Die Ärzte in der Rehaklinik empfehlen ihm das Berufliche Trainingszentrum (BTZ) in Stuttgart. Dort trainieren Menschen, um nach einer psychischen Erkrankung beruflich wieder einzusteigen. Über konkrete Aufgaben lernen sie, ihre Fähigkeiten gesund einzusetzen.
Unsichere Rückkehr
Doch die wahre Herausforderung beginnt für Dieter Manz mit der Rückkehr in den Arbeitsalltag: „Ich wusste, was ich kann und was ich ändern muss. Aber da war die Angst: Schaffe ich das, wenn wieder alles auf mich einstürmt?“ Dass dieser Sprung nicht so einfach ist, weiß auch Jürgen Pfohl, Jobcoach im Beruflichen Trainingszentrum: „Viele sind eigentlich wieder belastbar, fallen aber am Arbeitsplatz in alte Verhaltensweisen zurück und steigen nach etwa sechs Monaten erneut aus.“ – ein Verlust für Mitarbeiter und Unternehmen.
Aus dieser Erfahrung hat das BTZ Stuttgart mit der Deutschen Rentenversicherung Baden-Württemberg und der DRV Bund das Konzept „Integration plus“ entwickelt. Betroffene werden nach der Rückkehr in den Betrieb direkt am Arbeitsplatz von einem Coach unterstützt und sollen lernen, mit belastendenden Situationen umzugehen. Über neun Monate hinweg treffen sie sich regelmäßig mit dem Coach und besprechen Schwierigkeiten aus dem Arbeitsalltag. Sie reflektieren das eigene Verhalten und lernen, ungünstige Muster zu durchbrechen. „Was habe ich selbst zu meiner Überforderung beigetragen, was kann ich ändern? Der Blick von außen hat mir gezeigt, wie ich meine Aufgaben neu ordnen kann“, erklärt Manz.
Dafür muss auch das Umfeld entsprechend gestaltet sein. Zweiter Bestandteil des Coachings ist deshalb eine Beratung am Arbeitsplatz. „Wir schauen uns unter anderem die Arbeitsbedingungen an: Ist etwa die Geräuschkulisse im Großraumbüro ein Auslöser für Stress? Dann besprechen wir Lösungen dafür“, erläutert Pfohl vom BTZ.
In dieser Phase sind Führungskräfte die entscheidenden Partner: „Wichtig ist, dass das Unternehmen Leistungsanspruch und Fürsorgepflicht vereint. Die Gesundheit der Mitarbeiter ist eine langfristige Investition, die sich lohnt. Das muss die Führung vorleben.“ Das Programm zeigt langfristig positive Effekte: Nach einem Jahr arbeiten mehr als 90 Prozent der Teilnehmer von „Integration plus“ noch immer an ihrem Arbeitsplatz. Auch Mitarbeiter Dieter Manz hat es geschafft. Mit seinem Vorgesetzten klappt die Zusammenarbeit besser als je zuvor. Durch das Coaching hat er gelernt, klar zu sagen, wann er welche Aufgabe erledigen kann. Und er hat das Wichtigste wieder: seine Gesundheit.
„Es geht um nachhaltigen Erfolg“
Warum die Unterstützung für Mitarbeiter, Unternehmen und Rentenversicherung ein Gewinn ist, erklärt Martina Zeitler-Decker, stellvertretende Leiterin des Regionalbereichs Baden-Württemberg der DRV Bund.
Frau Zeitler-Decker, was macht Programme wie „Integration plus“ aus Sicht der Deutschen Rentenversicherung so wichtig?
Martina Zeitler-Decker: „Return to work“, also die Rückkehr in das Beschäftigungsverhältnis, ist das Ziel jeder Rehamaßnahme. Coaching-Angebote wie „Integration plus“ können eine erfolgreiche Ergänzung sein, um den Arbeitsplatz zu erhalten. Denn gesetzlicher Auftrag der Deutschen Rentenversicherung ist, die Erwerbsfähigkeit der Versicherten nachhaltig zu sichern bzw. wiederherzustellen, damit sie nicht vorzeitig aus dem Berufsleben ausscheiden.
Warum müssen die Arbeitgeber mit ins Boot?
Martina Zeitler-Decker: In Zeiten des Fachkräftemangels haben Arbeitgeber ein berechtigtes Interesse, dass Mitarbeiter möglichst dauerhaft an Bord sind. Im vertrauensvollen Gespräch lassen sich gemeinsam Möglichkeiten der Arbeitsplatzgestaltung ausloten – etwa durch ein anderes Aufgabengebiet bzw. eine angepasste Arbeitszeit oder Home-Office. Ein Gespräch kann auch helfen, Unsicherheiten des Arbeitgebers und der Kollegen abzubauen, wie sie mit Mitarbeitern nach einer psychischen Erkrankung umgehen.
Nimmt der Bedarf solcher Unterstützung zu?
Martina Zeitler-Decker: Das lässt sich nicht generell mit ja beantworten. Aber es ist anzunehmen, dass die steigenden Anforderungen am Arbeitsplatz durch fortschreitende Digitalisierung sowie Arbeitsverdichtung längerfristig Auswirkungen auf die Gesundheit von Mitarbeitern haben. Dann benötigen sie auch professionelle Unterstützung für den „return to work“.
Berufliches Trainingszentrum: Neustart in den Job nach psychischer Erkrankung
Nach einer psychischen Erkrankung fällt die Rückkehr in den Beruf oft schwer. „Integration plus“ berät Betroffene am Arbeitsplatz. Arbeitgeber erfahren, wie sie ihre Mitarbeiter beim Wiedereinstieg unterstützen können. Das Berufliche Trainingszentrum Rhein-Neckar (BTZ) bietet das Programm in Stuttgart, Frankfurt und Wiesloch an. Die Kosten übernimmt die Deutsche Rentenversicherung.
Das erste BTZ wurde 1980 in Wiesloch bei Heidelberg gegründet. Individuelle Trainingsprogramme schulen wichtige Fähigkeiten und steigern die Belastbarkeit. Psychosoziale Beratung hilft dabei, mit der Krankheit umzugehen. Insgesamt gibt es mehr als 20 BTZ in Deutschland, unter anderem in München und Leipzig.