Ein bekanntes Beispiel: Ryan Bingham tut es wieder: Ohne mit der Wimper zu zucken und ohne schlechtes Gewissen feuert er einen Mitarbeiter. Einen Mitarbeiter, den er bis vor kurzem gar nicht kannte und der nun ohne Job dasteht.
Bingham, in der Tragikomödie „Up In The Air“ von George Clooney verkörpert, ist zum Inbegriff des skrupellosen Rausschmeißers geworden. Er überbringt wildfremden Menschen Hiobsbotschaften. Genauer: Er sagt Mitarbeitern, dass sie gekündigt sind, weil deren Arbeitgeber sich das selbst nicht trauen.
Was aber hat dieser Bingham mit Bradford zu tun? Nun, in der Wahrnehmung vieler Arbeitnehmer haben beide den gleichen Hautgout und riechen nach Ärger. Es gibt allerdings einen entscheidenden Unterschied: Während Bingham in „Up In The Air“ ein Mensch aus Fleisch und Blut ist, handelt es sich bei Bradford um eine seelenlose Formel.
So entstand der Bradford-Faktor
Ihren Anfang feiert die Bradford-Formel in den 1980er Jahren. Sie wurde nicht von einem Professor namens Bradford erdacht, sondern an der Bradford University School of Management im Norden Englands entwickelt. Die beteiligten Wissenschaftler stellten sich damals eine nicht unwesentliche Frage: Können Unternehmen herausfinden, ob Mitarbeiter dem Arbeitsplatz nicht krankheitsbedingt, sondern vorsätzlich fernbleiben?
Was umgangssprachlich als Blaumachen oder Krankfeiern bekannt ist, heißt in der Fachsprache Absentismus. Damals wie heute handelt es sich dabei nicht um Einzelfälle, sondern um ein weitverbreitetes Phänomen, das die Wirtschaft jedes Jahr Milliarden kostet. Laut dem Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IWD) verursacht der Arbeitsausfall jedes Jahr kosten von rund 60 Milliarden Euro. Wie viel davon dem Absentismus geschuldet ist, weiß keiner so genau. Denn Arbeitsausfälle umfassen sowohl Abwesenheiten wegen echtem Unwohl-und Kranksein, als auch das vorsätzliche Fernbleiben.
Aber nochmals zurück zu den Bradford-Wissenschaftlern. Diese versuchten, den Absentismus in eine Formel zu übersetzen: B = S² x D (B = Bradford-Faktor, S = Anzahl der Abwesenheiten, D = Gesamtfehlzeit). Kommt bei der Formel ein Score bis zu 200 heraus, besteht kein Anzeichen von Absentismus. Ein Wert bis zu 449 deutet auf absichtliche Fehlzeiten hin. Ab 450 besteht für Unternehmen dringender Handlungsbedarf.
Negativer Bradford-Faktor: Kündigung?
Mit Hilfe des Bradford-Faktors können Arbeitgeber also zielgenau schauen, ob es bei den Abwesenheiten ihrer Mitarbeiter Auffälligkeiten gibt. Anschaulich gemacht wird der Faktor durch einen digitalen Jahreskalender, in dem alle Fehlzeiten eines Angestellten farblich markiert sind, oder anhand einer Heatmap.
Doch was bedeutet der Einsatz eines HR-Analyse-Tools dieser Art in der Praxis? Drohen Unternehmen, die mit dem Bradford-Faktor arbeiten, ihren Mitarbeitern mit Rausschmiss, wenn diese ein paar Fehlzeiten zu viel aufweisen? Das Problem ist, dass es darauf keine wissenschaftlich fundierte Antwort gibt. Es existiert bisher keine Studie, die einen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Einsatz des Bradford-Faktors und daraus resultierenden Kündigungen nachweist. Und selbst wenn es in der Realität eine kausale Verbindung zwischen einer mathematisch errechneten Auffälligkeit von Fehlzeiten und Kündigungen gäbe, so wäre die Zahl vermutlich verschwindend gering. Warum? Weil der Bradford-Faktor anders eingesetzt werden sollte und in der Regel auch anders eingesetzt wird.
Der Grund ist recht simpel: Sind Unternehmen wirtschaftlich gut aufgestellt, haben sie kein Interesse, Mitarbeiter rauszuwerfen. Wenn der Bradford-Faktor also zum Einsatz kommt, dient er vielmehr der Evaluation der Arbeitgebermarke. Wenn Mitarbeiter auffällig oft fehlen, kann durchaus der Arbeitgeber Auslöser dafür sein.
Gründe für nicht krankheitsbedingte Fehlzeiten:
- Unterforderung
- Mangelnde Wertschätzung
- Keine emotionale Bindung ans Unternehmen
- Mobbing durch Kollegen
- Fehlende Kompetenz
- Hohe Arbeitsbelastung
- Private Probleme
Präsentismus ist auch keine Lösung
Für Arbeitgeber ist der Bradford-Faktor eine Hilfe, um die Employee-Experience zu verbessern. Schließlich sollen sich Mitarbeiter in einem Unternehmen wohl fühlen. Einem seriösen Arbeitgeber geht es also in erster Linie darum, dem Arbeitnehmer entgegenzukommen, und nicht darum, hektisch nach einem Kündigungsgrund zu suchen. Es kann auch nicht das Ziel eines Arbeitgebers sein, Absentismus mit Präsentismus entgegenzuwirken. Dabei handelt es sich um das genaue Gegenteil von motivierten Fehlzeiten. Beim Präsentismus kommen Mitarbeiter selbst dann zur Arbeit, wenn sie eigentlich ins Bett gehören.
Ein Beispiel: Wenn Führungskräfte regelmäßig krank zur Arbeit erscheinen oder Kollegen mit einer Grippe von zu Hause aus weiterarbeiten, geraten auch alle anderen Mitarbeiter in Zugzwang. Denn es entsteht – bewusst oder unbewusst – der Eindruck, dass in diesem Unternehmen Mitarbeiter auch krank arbeiten müssen.
Mehrere Studien belegen jedoch, dass sich Präsentismus weit negativer auswirkt als Absentismus. Das zeigt auch die Langzeitstudie „Whitehall II“ zum Thema „Gesundheit und Arbeit“. Seit 1985 werden britische Beamte regelmäßig zu ihrer Gesundheit befragt. Die Forscher konnten nachweisen, dass Präsentismus sich nachteilig auf die Gesundheit auswirkt. Die Studie zeigt nämlich, dass Beamte, die drei Jahre lang keine Fehlzeiten aufwiesen, ein doppelt so hohes Herzinfarktrisiko haben als Kollegen mit Fehlzeiten.
Präsentismus kostet Arbeitgeber mehr
Eine weitere Studie nennt handfeste Zahlen. Wie die Unternehmensberatung Booz Allen Hamilton vor einigen Jahren errechnete, führt Präsentismus zu höheren Kosten als Absentismus. Ein Mitarbeiter, der – krank oder nicht krank – zu Hause bleibt, kostet einen Arbeitgeber im Schnitt 1.200 Euro pro Kopf und Jahr. Ein Mitarbeiter, der sich dagegen krank zur Arbeit schleppt, kostet eine Firma 2.400 Euro pro Jahr, weil er nur eingeschränkt produktiv sein kann und darüber hinaus womöglich Kollegen ansteckt, die dann ihrerseits für einige Tage ausfallen.
Der Bradford-Faktor ist also kein Tool, mit dem man Mitarbeiter nötigt, geschwächt zur Arbeit zu erscheinen. Wenn es zu häufigeren Fehlzeiten kommt, gilt es für Vorgesetzte vielmehr, das direkte Gespräch zu suchen. Dann sind jene Faktoren gefragt, die sich nicht in eine Formel pressen lassen: Ein Ohr haben für seine Mitarbeiter, sich für deren Wohlergehen interessieren, diese bestmöglich unterstützen. Und flexibel handeln. Vielleicht will ein Vollzeit-Mitarbeiter lieber in Teilzeit arbeiten oder wäre in einer anderen Abteilung glücklicher. Vor dem Bradford-Faktor braucht kein Arbeitnehmer Angst zu haben, ganz im Gegenteil zu einem Ryan Bingham.
Wesentliche Gründe für Präsentismus sind:
- Ausgeprägtes Pflichtgefühl
- Man möchte Kollegen keine Arbeit aufbürden
- Angst vor Arbeitsplatzverlust
- Nachteilige Auswirkung auf Karriere
- Verhalten der Führungskraft
- Unternehmenskultur