Frau Noll, Sie stammen aus Deutschland und arbeiten seit fünf Jahren als Agile Coach in Neuseeland. In welchem der beiden Länder hat sich agiles Arbeiten mehr etabliert?
Silke Noll: Agiles Arbeiten gibt es in beiden Ländern schon seit langem. Ein Beispiel ist XP. Aus meiner Sicht ist die Entwicklung in Neuseeland langfristiger und kontinuierlicher. In Deutschland beobachte ich seit zwei Jahren eine große Bewegung in Richtung einer agilen Arbeitsweise, vor allem getrieben durch die Digitalisierung in einer immer chaotischeren Welt. Interkulturell geht die agile Arbeitsweise den Neuseeländern leichter von der Hand als den Deutschen. Auf sich selbst gestellt zu sein, zu improvisieren, flexibel auf die Natur und auf externe Ereignisse zu reagieren ist tief in der Wertestruktur der Kiwis verankert. Die Stärken der Deutschen sind Planungsorientierung, Sicherheit, Prozessoptimierung, Aufmerksamkeit gegenüber Details und Strukturiertheit. Diese Eigenschaften können bisweilen dem agilen Arbeiten im Weg stehen.
Wie wirken sich diese interkulturellen Unterschiede auf agiles Arbeiten in der Praxis aus?
Silke Noll: Die Merkmale gewinnen an Relevanz, wenn man berücksichtigt, dass Agilität vor allem einen Kulturwandel in Unternehmen bedeutet, nicht das Implementieren von Projektmanagementmethoden. Daher beobachte ich, dass die Agilität in Deutschland oft statisch bleibt und dass nachhaltige Veränderungen mit sichtbarer, kontinuierlicher Verbesserung ausbleiben. Ein Beispiel: Oft scheitert die Einführung von Agilität in Unternehmen an dessen Gehaltsstrukturen, weil altbewährte Titel für Positionen und Funktionen plötzlich wegfallen sollen. Solche Konflikte sind international überall festzustellen, werden aber in Neuseeland etwas sportlicher gehandhabt als in Deutschland. Auch sind Führungskräfte in neuseeländischen Unternehmen von jeher mehr hands-on unterwegs, packen also selbst mehr an. Man begegnet sich auf Augenhöhe und redet sich mit Vornamen an, auch in Bewerbungsschreiben, offiziellen Briefen und Mails. Titel sind fast unwichtig. Das Statusdenken ist in Neuseeland weniger auf berufliche Leistung und Karriere ausgerichtet als in Deutschland. Der Ansatz lautet „Go for it“ – „Probiere es einfach aus“. Fehler dürfen gemacht werden. All das hilft agilen Ansätzen und agilem Denken.
Welche Unternehmen stellen sich agil auf?
Silke Noll: Agilität ist in den meisten Branchen in beiden Ländern auf dem Vormarsch, auch wenn es leichte Abweichungen gibt. Generell kommen reife Start-ups irgendwann in ihrer Entwicklung an den Punkt der kritischen Größe. Dann wird es schwieriger, die anfänglich natürliche Agilität aufrechtzuerhalten. In Neuseeland fällt es Start-ups leichter, auch in diesem Entwicklungsstadium länger agil zu bleiben. Aus meiner Sicht ist ein Grund die ohnehin agilere Landeskultur, auch in Teilen des öffentlichen Dienstes. Ein großer Prozentsatz der Regierungsunternehmen in Neuseeland arbeitet agil. Natürlich existieren Unterschiede zur Privatindustrie, die in beiden Ländern ähnlich sind. Doch Bürokratie und Prozessverliebtheit stehen den Neuseeländern tendenziell weniger im Weg als den Deutschen.
Die digitale Transformation pflügt Branche für Branche um, derzeit die Privatbanken.
Silke Noll: Die meisten neuseeländischen Banken haben sich skaliertem Agile verschrieben, sie leben dies aktiv und sind damit Kreditinstituten in Deutschland voraus. Das trifft auch auf die Branchen Versicherung, Logistik und Energie zu. In anderen Branchen sehe ich eher deutsche Unternehmen aktiver. So wagen sich in Deutschland im Vergleich mehr kleine und mittelständische Betriebe an die Agilität heran. Das mag daran liegen, dass sich in diesem Segment in Neuseeland nur Betriebe mit weniger als 20 Mitarbeitern befinden, im Gegensatz zum deutschen Mittelstand, der global expandiert. Auch die deutsche Vorzeigeindustrie, der Automobilbau, arbeitet größtenteils agil.
Wie unterscheidet sich das Berufsbild des Scrum-Masters in den beiden Ländern?
Silke Noll: Scrum-Master sind Servant Leader, die sich durch laterale Führung im Gegensatz zu disziplinarischer Führung auszeichnen. Was bedeutet das? In der alten Arbeitswelt hatten wir Chefs als Berater, doch der ist ein Auslaufmodell. Die Zukunft gehört der Führung durch Moderation. In Deutschland halten sich Scrum-Master mehr als in Neuseeland an agilen Prozessen und Methoden fest. Dabei fokussieren sie sich auf Detailwissen, auf Modellinnovationen und schicke Gründernamen. Aber hinter der Fassade stecken oft Dinge, die bereits vorhanden sind. Dagegen wird die Methodenlandschaft rund um Scrum in Neuseeland flexibler genutzt, durch Moderation angewandt und unternehmensweit vorangetrieben. Neben Scrum zählen auch Kanban-Systeme, Soziokratie, Holokratie oder skaliertes Agile wie SAFe, LeSS oder Nexus zum Repertoire der Coaches. In Neuseeland sehe ich eine größere Offenheit für alle agilen Methoden.
Wie sehr sind Scrum-Master gefragt?
Silke Noll: Hier unterscheiden sich die Arbeitsmärkte beider Länder grundlegend. In Deutschland herrscht durch das Aufleben von Agilität vor rund zwei Jahren ein Mangel an guten Scrum-Mastern und Agile Coaches vor. Es besteht ein Nachfrageüberschuss seitens der Unternehmen. Der Markt ist von freiberuflichen Scrum-Mastern geprägt, die sich auf Jahre in Unternehmen einnisten, anstatt sich fest anstellen zu lassen. Unternehmensberatungen wollen auf den Zug aufspringen und Projekte auf Jahre hinaus mit Agile Coaches und Scrum Mastern besetzen. Ich empfehle Scrum-Mastern und Agile Coaches, sich weiterzuentwickeln, sich fortzubilden und unterschiedliche Unternehmenskulturen oder Organisationen aufzubauen. Durch den permanenten Zuwachs an Kompetenzen und Erfahrungen können sie ihren Kunden einen größeren Mehrwert bieten. Wer als Agile Coach zu lange in einem Unternehmen bleibt, akkulturiert sich, anstatt einen frischen, neutralen Kopf von außen zu bieten. In Neuseeland weist die Agilität eine längere Historie und größere Kontinuität auf. Deshalb arbeiten dort mehr Scrum-Master und Agile Coaches. Die Balance zwischen Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt ist ausgeglichener. Scrum-Master und Agile Coaches in Neuseeland sind aufgrund ihrer Mentalität in ihrer Herangehensweise flexibler.
Wie sieht die Zukunft Ihres Berufs aus?
Silke Noll: Der Neuseeländerin in mir fällt es schwer, langfristig vorauszublicken, was für mich als Scrum-Master und Agile Coach ein Pluspunkt ist. Wegen der Digitalisierung wird unsere Welt immer chaotischer und damit VUCA, also volatil, unsicher, komplex und ungewiss. Künftig müssen immer mehr Unternehmen agil werden. Für viele Beschäftigte heißt das: Der sichere Arbeitsplatz ist passé. Wer im Job bestehen will, sollte sich kontinuierlich weiterentwickeln. Eine Anstellung auf Lebenszeit wird immer unwahrscheinlicher. Daher passen Unternehmen ihre Personalpolitik und Führungsmodelle an, um für Arbeitnehmer attraktiv zu bleiben. Wenn der Wettbewerb härter wird, gilt es für jedes Unternehmen und jeden Berufstätigen, die Kundenorientierung zu erhöhen, Transparenz zu gewährleisten und gut zu kommunizieren.
Das Interview führte Dr. Guido Birkner.