Sie befassen sich beide mit den gesundheitlichen Auswirkungen von Veränderungen der Arbeitswelt. Was lernen wir aus der Coronapandemie?
Dr. Alexandra Schröder-Wrusch: Am Beginn der Pandemie stand das Hygieneverhalten am Arbeitsplatz im Vordergrund. Kurz danach verlagerten viele Unternehmen die Arbeitsplätze ins Home-Office. Der steigende Anteil an Bildschirmarbeit und die eingeschränkte Kommunikation wirkten sich bei vielen Menschen gesundheitlich aus. So nahmen etwa Erschöpfungsphänomene zu. Heute stellen wir fest, dass es einen Gewöhnungseffekt gibt – auch in Bezug auf die Mischung zwischen Präsenz- und mobiler Arbeit. Die Erfahrung der vergangenen anderthalb Jahre hat das Gesundheitsverständnis beeinflusst. Daran müssen wir jetzt anknüpfen.
Prof. Dr. Susanne Völter-Mahlknecht: Sehen wir uns die Akzeptanz für neue Arbeitsformen an, stellt die Pandemie auch einen Booster für New-Work-Ansätze dar. Viele Unternehmen konnten erleben, dass die Produktivität durch mobiles Arbeiten nicht unbedingt sinkt und Beschäftigte sich nicht unbedingt belasteter fühlen, ja sogar die Arbeitszufriedenheit zunehmen kann. Beschäftige, die mehr Mitbestimmung und Flexibilität möchten, konnten im „Corona-bedingten Home-Office“ zeigen, dass diese Arbeitsform funktionieren kann.
Gleichzeitig zeigt sich Handlungsbedarf: Hinsichtlich der gesundheitlichen Auswirkungen, die mit den neuen Arbeitsformen einhergehen, gibt es noch Bedarf an wissenschaftlicher Evidenz. Wie definieren wir etwa einen Bildschirmarbeitsplatz, wie gehen wir mit mobilen Endgeräten um, wo beginnen gesundheitliche Beeinträchtigungen? Manche Regelungen des Arbeitsschutzes halten mit dem Wandel der Arbeitsformen nicht Schritt. Unternehmen fehlen teilweise evidenzbasierte, praxistaugliche Handlungsempfehlungen.
Schröder-Wrusch: Enttäuschend ist auch, wie spät die Betriebsärzte eine zentrale Rolle beim Überwinden der Coronakrise durch Impfungen bekommen haben. Insgesamt konnte der Arbeits- und Gesundheitsschutz unter Beweis stellen, dass die bewährten Regeln auch unter Pandemiebedingungen gültig bleiben – ob es um Hygieneregeln, den Umgang mit einem Home-Office-Arbeitsplatz oder das Sorgen für Pausen geht. Und es wurde deutlich, wie wichtig es ist, funktionierende Strukturen für Arbeits- und Gesundheitsschutz zu haben, damit diese im Ernstfall schnell greifen können.
Die Digitalisierung bringt neue Stressoren zum Vorschein, Stichwort „Technostress“. Welche Faktoren sind zentral?
Völter-Mahlknecht: Es gibt unterschiedliche Technostressoren, die zusammenspielen können. Da gibt es das Potential von Technologien, die Arbeitsintensivierung zu verstärken und Beschäftigte dazu zu bringen, mehr und schneller zu arbeiten. Andere Stressoren entstehen durch die verschwimmenden Grenzen von Arbeit und Freizeit, ständig erreichbar sein zu müssen oder das Verhältnis von fehlenden PC-Kenntnissen und neuen technischen Anforderungen. Sind alle Bereiche ausgeprägt, kann der Stressfaktor durch Wechselwirkungen besonders hoch sein und massiv die Gesundheit beeinträchtigen. Trifft nur ein Faktor zu, kann die betreffende Person das vielleicht noch ausgleichen.
Wie können sich Unternehmen dem Thema Technostress nähern?
Schröder-Wrusch: Ganz klar: wie jedem anderen Gefahrstoff auch. Anders als bei einem physikalischen Gefahrstoff ist bei psychischen Belastungen aber nicht eindeutig, welche Dosis toxisch wirkt. Dass sich Arbeit verändert, ist nicht neu. Wichtig ist eine differenzierte Analyse, um zum Beispiel schon bei der Einführung digitaler Tools präventive Aspekte zu berücksichtigen.
Völter-Mahlknecht: Grundlage betriebsärztlichen Handelns sind die Gefährdungsbeurteilung und die Betrachtung nach dem Belastungs-Beanspruchungs-Konzept. Die Belastung mag für alle gleich sein, aber die Beanspruchung nimmt jede Person unterschiedlich wahr.
Schröder-Wrusch: Bei einem achtsamen Umgang mit möglichen Stressoren kann ein Unternehmen Positives erleben. Ist die Ursache identifiziert, hat das Unternehmen großen Handlungsspielraum.
In der Pandemie war schnelles Handeln gefragt, um sich für die neuen Bedingungen aufzustellen. Hat Corona agiles Arbeiten vorangetrieben, und kann es in traditionellen Unternehmen überhaupt gelingen?
Schröder-Wrusch: Man darf pragmatisches Vorgehen wie zu Beginn der Pandemie nicht mit agilem Arbeiten gleichsetzen. Ich gehe dennoch davon aus, dass agile Arbeitsformen zunehmen werden, weil es wichtiger wird, flexibel auf neue Anforderungen einzugehen. Dazu braucht es ein anderes Führungsverständnis mit mehr Verantwortung in den Teams. Das ist mit hierarchischen Unternehmensformen oft schwer vereinbar, aber nicht unmöglich.
Völter-Mahlknecht: Die gesundheitlichen Risiken können in hybriden Unternehmensformen, beispielsweise in einer Mischung aus hierarchischen Strukturen und agilen Arbeitsweisen, hoch sein. Insbesondere besteht die Gefahr der Selbstausbeutung. Meiner Ansicht nach kommen Unternehmen nicht umhin, sich mit agilen Arbeitsweisen auseinanderzusetzen, um Arbeitsformen zu schaffen, die sich Beschäftigte zunehmend wünschen. Agiles Arbeiten kann Chancen in Bezug auf die Arbeitssituation und Gesundheitsförderung bieten. Agile Teams berichten von besseren Gestaltungsmöglichkeiten, verbesserter Kommunikation und der Möglichkeit des ständigen Lernens. Werden diese Autonomie in Frage gestellt und die erforderlichen Schutzräume nicht gewährt, kann es zu gesundheitlichen Risiken kommen.
Was haben wir seit Beginn der Pandemie über Remote Work gelernt?
Schröder-Wrusch: Früher war die Entscheidung für Home-Office eine freiwillige, meist, um ungestört zu arbeiten. Jetzt erleben wir ein Multitasking zwischen Arbeit, Kinderbetreuung, Home-Schooling und Haushalt. Das hat mit der Grundidee von mobiler Arbeit nicht mehr viel zu tun. In der aktuellen Zwangssituation erleben wir, dass Arbeit, Freizeit und Pause verschmelzen. Es braucht Selbstorganisation, damit die Vereinbarkeit von Familie und Beruf keine Mogelpackung wird. Vereinbarkeit bedeutet nicht, dass ich parallel zur Kinderbetreuung arbeite, sondern Zeit für beides habe.
Wie beeinflussen die Wünsche der Arbeitnehmer die Standards in Unternehmen künftig?
Völter-Mahlknecht: Die Spannbreite der Wünsche der Arbeitnehmer wird größer werden. Mehr Beschäftigte werden klare Vorstellungen haben, wie sie ihren Arbeitsplatz gestalten möchten und worin sie die Sinnhaftigkeit ihrer Arbeit sehen.
Schröder-Wrusch: Vieles wird davon abhängen, wie sich die Wirtschaft entwickelt und welche Rahmenbedingungen die Politik schafft, um die positiven Aspekte bewahren zu können. Entscheidend ist, dass der Schwung, den die Pandemie gebracht hat, aufgegriffen wird, bevor er verfliegt.
Dr. Alexandra Schröder-Wrusch ist Fachärztin für Arbeitsmedizin und Vorstandsvorsitzende der ias AG.
Prof. Dr. Susanne Völter-Mahlknecht ist Direktorin des Instituts für Arbeitsmedizin der Charité – Universitätsmedizin Berlin.
Das Gespräch führte Dorit Mikula, Leiterin Marketing/Kommunikation, ias Gruppe.