Frau Zwank, was ist Agilität und wie zahlt sie sich aus?
Julia Zwank: Agil stammt vom lateinischen „agilis“ und heißt beweglich. Nachhaltig wettbewerbsfähig sind heute Unternehmen, die beweglich sind, die also Veränderungen in der Umwelt analysieren, Strategien proaktiv justieren und schnelle Entscheidungen treffen. Studien zeigen nicht nur einen wirtschaftlichen Vorsprung agiler Organisationen, sondern auch zufriedenere Kunden und Mitarbeiter. Ich selbst habe die agile Transformation in Unternehmen verschiedener Größen und Branchen begleitet und kann sagen: Agilität ist, wenn sie richtig eingebettet wird, ein Triple-win-Versprechen. Das bestätigen auch unsere Erfahrungen an der Hochschule sowohl in Forschung und Lehre als auch im eigenen Tun.
Herr Professor Schneck, was heißt das konkret im Unternehmen?
Ottmar Schneck: Klare Ziele und Pläne, die auf einer ambitionierten Vision und Mission basieren, sind weiterhin wichtig. Agilität sollte nicht zu einem „Muddling through“, also dem Arbeiten im Alltag ohne Strukturen und Ziele, verkommen. Wer seinen Mitarbeitenden keine Orientierung gibt und Agilität mit Laissez-faire verwechselt, wird kein Ziel erreichen.
Unsere Hochschule hat weiterhin Monatsreportings, Jahresziele und rollierende Fünfjahrespläne mit einem tagesaktuellen Management-Cockpit auf Basis klarer KPIs. Diese passen wir ständig an Umweltveränderungen an, die uns als Leitplanken dienen. Ein gutes Beispiel ist unser Programm „studyfreenow“ für alle, die wegen Corona in Kurzarbeit oder arbeitslos geworden sind. Durch unsere agile Projektgruppe und Beteiligung nahezu aller Ressorts konnten wir das innerhalb von fünf Tagen von der Idee zum Markeintritt bringen – eine fantastische Leistung.
Wie sah die traditionelle Organisation vor dem agilen Imperativ aus?
Julia Zwank: Die klassische Managementtheorie beschreibt eine gute Organisation als eine gute Maschine. Statisch, routiniert und steuerbar. Arbeitsschritte sind in Führung und Ausführung zerlegt und Verantwortung sowie Kontrolle dem Management vorbehalten. Das funktioniert, solange das Umfeld stabil ist und Mitarbeiter als austauschbare Teile der Maschine verstanden werden. Doch auch, wenn es überholt klingt, dominiert diese Sicht noch immer viele Unternehmen und wird nicht zuletzt an der vorherrschenden Ingenieursprache deutlich: Inputs, Outputs, Human Resources – doch Agilität in einer Maschine? Ein Widerspruch. Der Gallup Engagement Index zeigt eindrücklich, dass traditionelles Management nicht nur unbeweglich ist, sondern vor allem Motivation und Lernen behindert.
Stellen Sie sich Corona vor 20 Jahren vor. Was hätte das für eine Organisation wie Ihre Fernhochschule bedeutet?
Ottmar Schneck: Das kann ich nur schwer beantworten, denn ich bin erst seit 2016 Rektor und Geschäftsführer der SRH Fernhochschule. Davor war ich 20 Jahre als Dekan für eine internationale Fakultät an einer staatlichen Hochschule tätig. Vermutlich hätte die Pandemie vor 20 Jahren alle Bildungseinrichtungen hart getroffen. Damals waren weder Homeoffice noch Onlinevorlesungen denkbar und technisch möglich. Wahrscheinlich hätten wir als Fernhochschule auch damals schon Lösungen gefunden, denn gedruckte Studienbriefe, das Telefon und Faxgeräte waren ja schon erfunden.
Was zeichnet ein modernes Unternehmen aus?
Julia Zwank: Ein modernes Unternehmen gleicht einem Organismus: offen, dynamisch und ständig im Entwicklungsprozess. Grenzen und Rollen vermischen, der Kunde ist Teil der Produktentwicklung statt reiner Konsument. Moderne Organisationen sind Netzwerke von Menschen, die räumlich getrennt und zeitlich begrenzt interagieren. Es geht um informelle Rollen, Selbstführung und selbstorganisierte Teams. Statt pyramidalen Hierarchien entscheiden diejenigen, deren Bereich betroffen ist, unabhängig von Positionsmacht. Lange Projektpläne werden von Experimenten mit kontinuierlichen Feedbackschleifen ersetzt. Veränderung wird nicht top-down gesteuert – jeder ist Changemaker.
Ihre Hochschule ist ein solches modernes Unternehmen. Was unterscheidet sie von anderen?
Ottmar Schneck: Wir arbeiten und leben in einer Holakratie, einer Organisation ohne feste Stellenbeschreibungen, dafür mit klaren Rollenbildern und Verantwortlichkeiten – ungeachtet von Hierarchien oder Gehaltsstufen. Es sind die Mitarbeitenden, die für ihren Bereich, ihr Thema oder ihr Projekt Verantwortung übernehmen. Sie finden in wechselnden Rollen, ob als Projektleiter oder -mitarbeiter, in einem Team Lösungen für die Herausforderungen unserer Zeit und setzen diese eigenständig um. Dabei ist auch eine Entscheidungsstruktur notwendig, durch die man finale Beschlüsse fasst. Prozesse und Schnittstellen müssen definiert werden. All das haben wir in unserem Netzwerk-Organigramm festgehalten.
Gab es Stolperfallen bei der Transformation? Worauf sind Sie stolz?
Ottmar Schneck: Als Rektor bin ich stolz auf die Kollegen, die sich auf diesen Organisationswandel eingelassen haben und jeden Tag an der Optimierung von Prozessen, Rollen, Aufgaben und Themenstellungen arbeiten, die unsere agile Hochschule ausmachen. Natürlich gibt es Stolperfallen, die meisten sind in menschlichem Verhalten begründet. Dieses ist nie fehlerfrei, und mangelnde Abstimmung kommt auch in agilen Projekten vor. Wichtig ist, die Stolperfallen zu erkennen, zu beheben und eine große Fehlertoleranz zu entwickeln.
Führung gestern, Führung heute: Was ist anders?
Julia Zwank: Der traditionelle Führungsbegriff, wie er im Wirtschaftslexikon steht, basiert auf „asymmetrischen sozialen Beziehungen der Über-und Unterordnung“. Eine solche heroische Perspektive greift heute nicht mehr. Es geht um Führung, nicht um Führungskräfte. In einer modernen Organisation ist Führung ein Produkt kollektiver Entscheidungsfindung – dynamische, interaktive Einflussprozesse zwischen Mitarbeitern, die eigenverantwortlich an Zielen und Strategien arbeiten. Dabei zählen nicht richtig oder falsch, sondern gemeinsames Entwickeln, Reflektieren und Lernen.
Welchen Tipp geben Sie anderen Unternehmen für die agile Reise?
Ottmar Schneck: Authentizität ist von großer Bedeutung. Als Führungskraft muss ich Agilität vorleben, sonst kann ich das auch nicht von meinen Mitarbeitern erwarten. Erfolg ist eine Teamleistung. Deshalb freue ich mich ungemein, wenn wir an der Rückmeldung des Marktes sehen, dass es funktioniert, zum Beispiel, wenn wir erfolgreich ein neues Produkt am Markt platzieren konnten oder wenn Mitarbeiter ein Projekt super umgesetzt haben. Diese Freude teilen wir mit viel Offenheit, Lob und Transparenz. Sparen Sie nicht an Anerkennung für Ihre agilen Teams – sie haben es verdient!