Fachkräftemangel und akute Probleme bei der Besetzung von Stellen sind längst nicht mehr nur Fachthemen, sondern Politik und Öffentlichkeit diskutieren darüber viel und suchen Lösungen. So schlug der Minister für Arbeit und Soziales, Hubertus Heil, jüngst vor, die Beschäftigung in Deutschland durch Zuwanderung der „richtigen Kräfte“ auszuweiten und die „Potentiale im Inland“ zu heben.
Attraktive Arbeitsbedingungen wie die Vier-Tage-Woche bei gleichbleibender oder gar erhöhter Produktivität, die familiengerechtere Gestaltung von Arbeitszeiten und auch höhere Entgelte sind Vorschläge aus Wissenschaft und Gesellschaft, die darauf abzielen, die Probleme zu beheben.
Das alles kann zwar Wirkung entfalten, jedoch ist die generelle Effektivität dieser Maßnahmen zweifelhaft. Insbesondere ist es schwierig zu beurteilen, welche spezifischen Wirkungen derartige Lösungsansätze haben können, da es an Daten über die Praxis des Personalmanagements mangelt. Die Helmut-Schmidt-Universität/Uni Bw Hamburg (HSU) und das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) möchten daher mit der Langzeitstudie „Betriebe und berufliche Arbeitswelten in Deutschland“ nun aussagekräftige Daten erhalten.
Herausforderungen: Fachkräftemangel und hohe Arbeitsbelastung
Die Befragung richtet sich an Geschäftsführer und Personalverantwortliche in Betrieben in Deutschland. Die erste Erhebung umfasst rund 780 Datensätze. Entsprechend der betrieblichen Größenstruktsur sind kleine und mittlere Unternehmen (KMU) mit 10 bis 249 Beschäftigten (64 Prozent), mittelgroße Unternehmen mit bis zu 499 Beschäftigten (11 Prozent) und große Betriebe (17 Prozent) im Sample vertreten.
Erste Befragungsergebnisse zeigen, dass rund drei Viertel der Betriebe (77 Prozent) die Rekrutierung von Fachkräften als sehr große oder große Herausforderung einstufen. Ferner erachten KMU die Personalbindung – hierzulande lange Zeit kein großes Thema – zunehmend als schwierig. Für 15 Prozent der Betriebe ist das ein wichtiges Thema, und die Bedeutung nimmt mit der Betriebsgröße zu. Dass hohe Arbeitsbelastungen eine Rolle spielen könnten, darauf verweisen mehr als die Hälfte der Befragten (53 Prozent).
Unternehmen beklagen Schwierigkeiten bei Talentgewinnung
Betrachtet man die Sachlage detaillierter, wird es unübersichtlich. Eine bessere Entlohnung, gemessen am Indikator der (über)tariflichen Orientierung, verringert nicht automatisch die Schwierigkeiten bei der Personalgewinnung. Auch leistungsbezogene Entgeltsysteme erweisen sich im Mittel nicht als hilfreich, um Talente zu rekrutieren. Familienfreundliche Maßnahmen wie Betriebskindergärten scheinen über alle Betriebe hinweg gar mit größeren personellen Problemen einherzugehen. Generell bringen die Effekte betrieblicher Maßnahmen unterschiedliche Wirkungen mit sich, abhängig von Branche und Personalstruktur eines Betriebs.
Die „neue“ Unübersichtlichkeit, so die These, korrespondiert mit zwei langfristigen Trends.
- Die Forschung zu den Arbeitsbeziehungen beobachtet seit Jahrzehnten das Phänomen der unorganisierten Dezentralisierung. Der schwindende gewerkschaftliche Organisationsgrad einerseits und die folglich abnehmende Bindung der Arbeitgeber an die Verbände andererseits führten dazu, dass Dezentralisierung zunehmend nicht mehr in Öffnungsmöglichkeiten innerhalb des Tarifsystems gesucht wurde, sondern mehr und mehr tariffreie Zonen etabliert wurden. Waren zur Jahrtausendwende noch 44 Prozent der Betriebe tarifgebunden und deckten diese rund 70 Prozent der abhängigen Beschäftigungsverhältnisse ab, so sind dies heute nur noch 26 Prozent der Betriebe und rund 50 Prozent der Beschäftigten. Diese Verhältnisse auf der Makroebene sind gut dokumentiert.
- Es ist ein Trend des Aufbaus personalwirtschaftlicher Expertise zu vermuten, der sich weitgehend unbeobachtet vollzieht. Es ist nur wenig bekannt, welchen Weg das vergleichsweise junge betriebswirtschaftliche Fach Personal über das wissenschaftliche Studium hinaus in die Praxis fand und findet. Es darf aber vermutet werden, dass mit der Professionalisierung betriebsspezifische Situationsanalysen und Maßnahmenbündel etabliert wurden.
Die Verbetrieblichung der Arbeitsbeziehungen, so lässt sich vermuten, geht mit der betrieblichen Institutionalisierung des Personalmanagements einher.
Was kann HR tun?
In Zeiten eines akuten Fachkräftemangels und der fortschreitenden Digitalisierung muss von weiteren Veränderungen in der Arbeitsorganisation und in der Personalarbeit ausgegangen werden, wie die ersten Ergebnisse dieser Betriebsbefragung zeigen. Diese müssen aus wissenschaftlicher Sicht weiter begleitet werden, denn bislang hat die personalwissenschaftliche Forschung mit dieser Entwicklung nicht Schritt gehalten. Jenseits einer Fülle von wertvollen Einzelstudien ist der Aufbau von Instrumenten zur langfristigen empirischen Erhebung von Praktiken des Personalmanagements jedenfalls unterblieben. Nicht nur die betriebliche Seite, auch die Verknüpfung mit Informationen über die Arbeits- und Lebenswelt der Beschäftigten fehlt.
Wenn aber Informationen über die vielfältigen Lebenssituationen der (potentiell) Erwerbstätigen nicht mit Praktiken des Personalmanagements verbunden werden können, können auch Rezepte zur Bewältigung des Fachkräftemangels nicht auf ihre mögliche Wirksamkeit beurteilt werden. Daher ist es dringend angezeigt, dass Personalpraxis und -forschung zusammenwirken, um Datensätze zu etablieren. Ohne spezifische Forschungsdaten bleibt Orientierungswissen für die betriebliche Praxis, für Verbände und für Politik Mangelware.
Prof. Dr. Wenzel Matiaske, Helmut-Schmidt-Universität/Uni Bw Hamburg