Die Coronapandemie hat auch ihn ins Home-Office verbannt: Tim Mois, Gründer und Geschäftsführer des Unternehmens Sipgate, ist an einem Freitagmorgen im März dieses Jahres virtuell in seinem heimischen Arbeitszimmer erreichbar. Er bedauert, dass er derzeit keine Besucher in seinem Unternehmen in der Gladbacher Straße empfangen kann, denn „der Ort hat eine besondere Atmosphäre“, schwärmt Mois.
Trotz dieses Wermutstropfens sieht der Geschäftsführer die Lage seines Unternehmens positiv: „Unsere Methoden funktionieren megagut“, sagt er stolz. Nur durch die Umstrukturierung der Firma vor rund zehn Jahren sei Sipgate so stabil aufgestellt, dass es auch in der jetzigen Krise nicht untergehe. „Beim ersten Lockdown 2020 konnten wir alle sofort ins Home-Office umziehen; das hat vom ersten Tag an geklappt“, blickt Mois zurück. Mit „wir“ meint er sich und immerhin rund 260 Mitarbeiter.
So gut wie heute stand das Unternehmen nicht immer da. Vor rund einem Jahrzehnt, fünf Jahre nach seiner Gründung, rutschte es in eine Krise – trotz vieler Kunden. Das Problem war, so schildert Mois es heute, dass damals aus dem 20-Mann-Betrieb binnen kürzester Zeit ein mittelständisches Unternehmen mit etwa 70 Mitarbeitern geworden war. Die Strukturen waren dabei nicht mitgewachsen. „Früher hatte jeder mit jedem gesprochen. Das war mit so vielen Mitarbeitern nicht mehr möglich“, erinnert sich der Gründer.
Mois und der zweite Geschäftsführer, Thilo Salmon, waren gezwungen, das Unternehmen radikal umzubauen, um sein Überleben zu sichern. Sie überlegten eine Neuorganisation – weg von hierarchischen Strukturen hin zu agilen – und ließen sich auf diesem Weg von einer Unternehmensberatung unterstützen. „Der Trend kam damals aus den USA“, erinnert sich Mois und ergänzt: „Es war toll, zu sehen, dass andere sich schon genau dieselben Fragen gestellt hatten wie wir und sogar Antworten gefunden hatten. Wir konnten uns so an klaren Handlungsanweisungen orientieren.“
Dann gab es „den einen Montag, an dem alles anders war“. Das Unternehmen stellte auf neue Arbeitsabläufe um. „Es ging viel um grundsätzliche Organisationsformen: Wie arbeiten wir zusammen? Wie organisieren wir uns? Und wie schaffen wir es, eines Tages zufrieden zurückzublicken?“, erklärt Mois. Scrum, eine agile Arbeitsmethode aus der Softwareentwicklung, war damals die Basis. Dabei geht es darum, ein heterogenes Team mit klar verteilten Rollen eine komplexe Aufgabe lösen zu lassen, indem diese in Teilaufgaben zerlegt wird. Sipgate rollte in wenigen Jahren diese Methode auf das ganze Unternehmen aus, „von der Buchhaltung bis zum Küchenteam“.
Die Einführung der neuen Methoden ist laut Mois nicht problematisch gewesen. Schließlich war sie durch die Beratungsfirma vorbereitet. Kritisch wurden vielmehr die ersten Monate danach, denn die Methode erforderte einen Kulturwandel.
Mitarbeiter waren mehr als zuvor in Entscheidungsprozesse involviert; eine transparente Kommunikation im gesamten Team war erforderlich. Jeder Mitarbeiter erhielt mehr Freiheiten und gleichzeitig mehr Verantwortung. Dass die Beschäftigten gelernt haben, Verantwortung zu übernehmen, hat sich erst Anfang des Jahres 2021 wieder gezeigt. Sipgate stieg einen Monat lang auf Sechs-Stunden-Tage um – bei vollem Gehalt. Ziel war, Mitarbeiter in der Coronakrise zu entlasten. „Das hat gut geklappt: Alle haben sich auf das Wesentliche konzentriert und so die Arbeit geschafft“, ist Mois‘ Fazit.
„Zu unserer Kultur gehört auch, schwierige Dinge anzusprechen“, sagt er. Das erfordere viel Kommunikation und Vertrauen, und dieses dürfe nicht „durch ein ungeschicktes Management kaputtgemacht werden.“ Persönlicher Austausch ist auch bei den zweiwöchentlichen Open-Space-Formaten, den sogenannten „Open Fridays“ möglich. Jeder Mitarbeiter kann dafür Themen einbringen, seien es technische Fragen, Investieren für Anfänger, die Herstellung von Brombeerwein oder Reiseberichte. „Viele Themen haben auf den ersten Blick nichts mit der alltäglichen Arbeit zu tun“, gibt Mois zu. Doch sie sind oft richtungweisend.
Weitere entscheidende Punkte der agilen Strukturen sind ein strukturiertes, transparentes Recruiting und ein passendes Gehaltsniveau. Jedes Team organisiert selbst, wen es wann einstellen oder entlassen möchte. Das Gehalt richtet sich nach dem höchsten Ausbildungsabschluss eines Angestellten sowie nach dessen Erfahrung auf dem Arbeitsmarkt. „Seitdem ist es fairer geworden“, resümiert Mois. Ein weiterer Anhaltspunkt für die Höhe des Gehalts seien Marktgehälter. Aber auch hier ist der Geschäftsführer realistisch und weiß, dass er nicht mit den großen Konzernen mithalten kann. Er punktet vielmehr über Incentives und Arbeitsklima. Das bestätigen Kandidaten, die gerade das als Hauptgrund für ihre Bewerbung bei Sipgate angeben.
Kontinuierlicher Verbesserungsprozess Mois bedauert, dass nicht mehr Unternehmen „seine“ Kultur leben. „Ich merke immer wieder bei neuen Mitarbeitern, die aus anderen Unternehmen kommen, dass sie von einer anderen Kultur geprägt sind, die Fehler nicht zulässt.“ Doch nur durch das Erkennen, Benennen und auch Machen von Fehlern könnten Prozesse und Produkte verbessert werden. Daraus ergibt sich auch Mois‘ wichtigster Wunsch für die Zukunft: „Wir wollen innovative neue Produkte entwickeln, die die besten für die Kunden sind.“