Frau Liebl, Sie sind als Psychosozialberaterin in Unternehmen tätig. Wenn ich als Führungskraft das Gefühl habe, dass ein Mitarbeiter unter psychischen Belastungen leidet – wie spreche ich das an?
Helga Liebl: Je früher Führungskräfte eine Verhaltens- oder Leistungsveränderung thematisieren, umso schneller ist Hilfe möglich. Das wirkt sich positiv auf den Krankheitsverlauf aus. Wichtig ist, solche Gespräche gut vorzubereiten, sich Zeit zu nehmen, Wertschätzung und Anteilnahme zu zeigen, aber auch ganz konkret nachzufragen.
Bewährt hat sich dabei das H-I-L-F-E-Konzept als Handlungsempfehlung für Führungskräfte:
- H – Hinsehen
- I – Initiative ergreifen
- L – Leitungsfunktion wahrnehmen
- F – Führungsverantwortung übernehmen: fördern und fordern
- E – Experten oder Expertinnen hinzuziehen
Welche Sätze sind gut? Welche sollte ich als Führungskraft vermeiden?
Helga Liebl: Weglassen sollten Führungskräfte Du-Botschaften und Bewertungen sowie eigene Diagnosen. Hilfreicher für eine gute Verständigung sind aktives Zuhören und einfühlsames Nachfragen. Als geeignet erachte ich daneben die „WWW“-Kommunikationsregel. Dabei folgt die Kommunikation dem Muster „Wahrnehmung – Wirkung – Wunsch“. Im Alltag vermischen wir diese drei Bereiche oft, ohne dass uns das bewusst ist, beispielsweise schildern wir unsere eigene Wirklichkeit und vermischen diese mit unserer Interpretation. Nach der WWW-Regel schildern wir für den Gesprächspartner transparent nachvollziehbar und in Ich-Botschaften die eigene Wahrnehmung, etwa Sichtbares oder Gehörtes. Im Anschluss daran folgt unsere Interpretation in Form einer Hypothese: „Das wirkt auf mich …“. Abschließend äußern wir, welche Verhaltensänderung wir uns wünschen.
Wie kann ich Vertrauen aufbauen, damit Mitarbeiter zu mir kommen?
Helga Liebl: Betroffene Beschäftigte haben in aller Regel Angst, ihre Erkrankung im Betrieb öffentlich zu machen. Und verunsicherte Führungskräfte wissen oft nicht, wie sie mit den betroffenen Mitarbeitern oder Mitarbeiterinnen umgehen und sie unterstützen sollen. Oft bewirkt dies, dass sie Probleme nicht thematisieren.
Wenn Führungskräfte sich dagegen trauen, hinzusehen, wenn sie vorleben, dass über Auffälligkeiten und Probleme wertschätzend gesprochen werden kann und Sich-beraten-Lassen kein Zeichen von Schwäche, sondern ein Arbeiten am eigenen Entwicklungspotential darstellt, dann kann das eine Basis schaffen, auf der Tabus abgebaut und vertrauensvolle Gespräche möglich sind.
Letztlich möchte jeder Mensch angenommen werden als der, der er ist, und sich nicht hinter einer Maske verstecken müssen. Das ist bereits ein zentraler Punkt auf dem Weg der Bewältigung psychischer Krisen. Und an dieser Stelle kann die Führungskraft quasi auch als Vorbild dienen, indem sie mögliche eigene Verunsicherungen zeigt, anstatt sie zu verbergen. Das kann Vertrauen schaffen.
Wer profitiert davon?
Helga Liebl: Letztendlich profitieren langfristig alle Beteiligten: Die Mitarbeiter lernen, ihr Leistungsvermögen einzuschätzen, angemessene Grenzen zu setzen und damit ihre Gesundheit und Leistungsfähigkeit bei höherer Zufriedenheit zu erhalten. Der Arbeitgeber profitiert von gesunden, motivierten und leistungsstarken Mitarbeitern. Jeder Euro, den Arbeitgeber in betriebliches Gesundheitsmanagement und betriebliche Sozialberatung (EAP – Employee Assistance Program) stecken, rechnet sich für den Arbeitgeber in aller Regel durch höhere Mitarbeiterbindung und -zufriedenheit sowie sinkende Krankheitsquoten.
Können Sie das näher ausführen?
Helga Liebl: Seit 1997 hat sich die Anzahl der Krankheitstage infolge psychischer Erkrankungen verdreifacht. Im Jahr 2019 waren 2,2 Millionen Beschäftigte in Deutschland laut der Krankenkasse DAK aufgrund psychischer Erkrankungen krankgemeldet, das war umgerechnet jeder achtzehnte Arbeitnehmer mit durchschnittlich 35 Tagen. Das sind 90 Millionen Fehltage deutschlandweit im Jahr. Stellen Sie sich vor, was das Unternehmen kostet!
Wie lassen sich diese Fehltage vermeiden?
Helga Liebl: Es geht weniger um Vermeidung als vielmehr um die Akzeptanz von Krisen als Voraussetzung von Entwicklung und den Ausbau einer Art innerer Widerstandskraft, Resilienz.
Wir fühlen uns meistens gut, wenn wir es anderen recht machen, wenn sie uns zeigen, dass sie zufrieden mit uns sind, uns also spiegeln, dass wir okay sind. Für einen Burn-out-Patienten geht es aber beispielsweise darum zu lernen, Grenzen zu setzen und ein klares „Nein“ zu äußern. Da er damit in seinem Umfeld möglicherweise weniger Zufriedenheit auslöst als früher, ist es zur Gesunderhaltung entscheidend zu lernen, die Unzufriedenheit der anderen nicht als persönliches Versagen, sondern als Anzeichen für eine erfolgreiche Verhaltensänderung zugunsten der eigenen Gesundheit zu sehen. Das bedeutet einen gravierenden mentalen Veränderungsprozess, der gut begleitet werden muss. Im Rahmen von EAP biete ich dies in Form von Resilienzcoaching an. In den meisten Fällen gelingt es, sich innerhalb von acht bis zehn Sitzungen Lösungskompetenzen zu erarbeiten, um den eigenen Energiehaushalt erfolgreich auszubalancieren.
Nicht jede Führungskraft bringt die richtige Menge an Empathie und Verständnis für das Thema mit. Wo bekomme ich als Führungskraft Nachhilfe?
Helga Liebl: Führungskräfte werden hier nicht alleingelassen. Wir erarbeiten gemeinsam in der Beratung, was die oben angesprochene Handlungsempfehlung im Einzelnen bedeutet und wie die Führungskraft Mitarbeiter individuell und konkret unterstützen kann. Wir erarbeiten auch, wo die Grenzen der Unterstützung liegen.
Was raten Sie Führungskräften, denen das Thema psychische Gesundheit suspekt ist?
Helga Liebl: Es ist wichtig, diesen Führungskräften zuerst einmal Verständnis entgegenzubringen. Wenn sich Menschen für uns seltsam und nicht nachvollziehbar verhalten, kann das große Verunsicherung auslösen. Auch bringt uns das oft mit eigenen Gefühlen, möglicherweise Ängsten, in Verbindung, bei denen sich gerade Führungskräfte manchmal schwertun, wenn sie von sich selbst das Bild haben, alles im Griff haben zu müssen.
Oft kann es entlasten zu erkennen, dass wir uns alle in einem ständigen Kontinuum – zwischen psychisch völlig unbeeinträchtigt über belastet bis behandlungsbedürftig erkrankt – bewegen. Der psychisch auffällige oder kranke Mitarbeiter hat also durchaus auch gesunde Seiten in sich; und wir alle haben andersherum auch Seiten, die mehr oder weniger stark beeinträchtigt sind.
Warum ist es wichtig, in Unternehmen einen besseren Umgang mit psychischen Erkrankungen zu implementieren?
Helga Liebl: Meist gehen Mitarbeitende, vor allem aber Führungskräfte davon aus, dass ein psychisch erkrankter Beschäftigter entweder dauerhaft gestört ist oder wie nach einem Infekt gesund zurückkommt. Hier klären wir auf, dass es eher darum geht, alte Muster zu durchbrechen und neue Lösungsstrategien zu erarbeiten. In einer Klinik kann das nur in der Theorie erfolgen. Am Arbeitsplatz geht es darum, das Gelernte erfolgreich in die Praxis umzusetzen. Dabei stehe ich allen Beteiligten unterstützend zur Seite.