Frau Professor Sosnowsky-Waschek, woher kommt dieses Bedrohungsgefühl in Bezug auf unsere Gesundheit?
Nadia Sosnowsky-Waschek: Bei jedem Einkauf schätzen wir im Voraus das Risiko ein, ob wir durch den Verzehr von Chips dick werden und gesundheitliche Schäden davontragen. Beim Autofahren entscheiden wir in Bruchteilen einer Sekunde, ob wir es noch über die gelbe Ampel schaffen. Wie die Entscheidung in der jeweiligen Situation ausfällt, hängt von verschiedenen Faktoren ab, unter anderem davon, wie schwerwiegend wir die Folgen dieser Entscheidung für die Gesundheit einschätzen und wie wahrscheinlich es ist, dass wir
diese Folgen überhaupt selbst tragen müssen. Verursacht die Packung Chips Diabetes, und verkürzt sich dadurch die persönliche Lebenszeit? Bei vielen Alltagsentscheidungen wird das persönliche Gesundheitsrisiko eher als gering eingestuft. Also fahren wir über Gelb und legen die Chips in den Einkaufswagen.
Solche Risikoabwägungen sind alltäglich, zugleich hocheffizient und für das Gehirn energiesparend, weil sie uns vielfach das Leben erleichtern. Die Bewertung läuft nämlich oft gänzlich unbewusst, quasi automatisch ab.
Was ist bei der Bewertung des Coronavirus und den Folgen einer Ansteckung damit anders?
Nadia Sosnowsky-Waschek: Im Falle des Coronavirus können wir nicht auf bewährte Alltagsroutinen zurückgreifen. Wir haben es mit der Bewertung eines Ereignisses zu tun, das neu ist, das im Vergleich zu vielen anderen Lebensrisiken selten auftritt und dessen potenzielle gesundheitliche Folgen für die eigene Person, für unsere Familien und für die Wirtschaft wir nicht einschätzen können. Das von solchen seltenen und neuen Ereignissen ausgehende Risiko wird typischerweise überschätzt, für deutlich häufiger auftretende, aber bekannte andere Risiken wird es hingegen eher unterschätzt.
Was beeinflusst noch die Risikowahrnehmung?
Nadia Sosnowsky-Waschek: Es ist auch relevant, wie man die Kontrollmöglichkeiten einer Ansteckung einschätzt. Kann ich mich durch die Desinfektion der Hände oder die Verwendung einer Maske wirksam vor einer Ansteckung schützen? Hängt eine Infektion überhaupt von meinem eigenen Verhalten oder von dem anderer Menschen oder einfach nur vom Zufall ab? Durch immer neue Informationen seitens der Medien, durch berichtete Zwischenfälle oder Verbote entsteht bei vielen Menschen der Eindruck einer geringeren Kon-trollierbarkeit des Ansteckungsrisikos und dessen Folgen. Bedenkt man die Unfreiwilligkeit der Exposition mit dem Virus, wird die Gefahr ebenfalls größer eingeschätzt. Einer Angst vor einem Flugzeugabsturz kann ich dadurch entgehen, dass ich Flugreisen generell meide. Aber reichen anderthalb Meter Abstand zu anderen Personen aus, um das eigene Risiko einer Infektion mit dem Coronavirus einzudämmen?
Angesichts der vielen neuen und manchmal auch widersprüchlichen Informationen fällt es uns schwer, ein endgültiges Urteil über die Situation abzugeben. Wir kommen nicht zur Ruhe, sind verunsichert. Kaum haben wir uns einen Plan gemacht, wie wir zur Infektionslage stehen und wie wir uns verhalten, müssen wir gegebenenfalls umdenken.
Schließlich kommt noch unsere Persönlichkeit ins Spiel. Die Optimisten werden in dieser unsicheren Lage zunächst standhaft eine eher zuversichtliche Haltung vertreten und gehen davon aus, dass alles schon irgendwie gut ausgehen wird. So betrachtet, ist die Angst vor dem Coronavirus eigentlich rational. Sie ist die Folge vieler Bewertungsprozesse und die Folge der Anpassung an die neue Situation. Eine Panikstörung ist dies nicht, vielmehr versuchen wir, Stress zu bewältigen beziehungsweise ein schwer fassbares Problem zu lösen.
Wie können wir mit dem Coronastress umgehen?
Dr. Nadia Sosnowsky-Waschek: Was helfen kann, ist sicherlich, sich dieser Bewertungsvorgänge bewusst zu werden. Unser Denken und Fühlen steuern unser Verhalten oft unbewusst. Achtsam zu sein und sich einen Plan zu machen, wie Kontrolle im eigenen Alltag wiederhergestellt werden kann, kann den Anflug von Panik senken.
Neue Routinen wie zum Beispiel langes, gründliches Händewaschen, Verzicht auf Händeschütteln, Meiden von Menschenansammlungen und gleichzeitig eine positive Umgestaltung des Alltags können hilfreich sein – wie beispielsweise ein ruhiger Spaziergang im Wald, mal wieder ein Buch lesen, ein Bad nehmen. Möglicherweise ist es auch sinnvoll, die Nachrichten nicht im Corona-Liveticker am Handy zu verfolgen, sondern nur einmal am Abend oder nach einer anderen individuellen Vorgabe. Von der Flut neuer Informationen sollte jeder zwischenzeitlich pausieren können.