Herr Professor Mühlfelder, wer studiert bei Ihnen berufsbegleitend Arbeitspsychologie?
Prof. Dr. Manfred Mühlfelder: Unsere Studierenden sind bunt zusammengesetzt. Rund 90 Prozent von ihnen studieren berufsbegleitend, sind also im Hauptberuf anderweitig beschäftigt. Je nach Interessen und Möglichkeiten können sie bei uns Zertifikate erwerben sowie ein Bachelor- oder ein Masterstudium absolvieren. Die überwiegende Zahl der Studierenden ist zwischen 20 und 40 Jahren alt. Ein Teil von ihnen studiert jetzt zum ersten Mal, nachdem eine Berufsausbildung in der Regel vorausgegangen ist. Andere wollen sich beruflich weiterqualifizieren. Das heißt, sie arbeiten bereits in einem Gesundheitsberuf, wollen sich aber fortentwickeln. Das kann beispielsweise die Krankenschwester sein, die in Zukunft in einem anderen Gesundheitsbereich arbeiten möchte. Die dritte Gruppe sind Personen, die eine komplett andere akademische Ausbildung mitbringen und sich verändern wollen, etwa Wirtschaftswissenschaftler. Nur ein kleiner Teil unserer Studierenden kommt frisch von der Schule und studiert erstmals bei uns im Sinne einer ersten Berufsausbildung. Die Zusammensetzung unserer Studierenden ist also divers. Das stellt eine Herausforderung für uns als Dozenten dar, wenn wir für Personen mit unterschiedlichem Bildungs- und Berufshintergrund eine annähernd gleiche Wissensbasis als Ausgangsstufe schaffen wollen. Damit das gelingt, haben wir die individuellen Voraussetzungen bei den Präsenzen und beim Studienmaterial konsequent berücksichtigt. Ansonsten lassen sich die Fernstudiengänge an jedem Ort der Welt absolvieren.
Welche beruflichen Wege schlagen Ihre Absolventen nach dem Abschluss ein?
Prof. Dr. Manfred Mühlfelder: Wir sehen einen stark wachsenden Bedarf an Absolventen im Berufsfeld der betrieblichen Gesundheit mit dem Schwerpunkt auf Psychologie. So finden sie häufig Anstellungen bei Dienstleistern und Prüforganisationen wie TÜV oder DEKRA. Gerade TÜV und DEKRA, die sich lange vor allem auf die physische Gesundheit der Berufstätigen spezialisiert haben, haben einen Handlungsbedarf bei der psychischen Gesundheit entdeckt und bieten Unternehmen Gesundheits- und Präventionsleistungen an. Das ist auch das neue Tätigkeitsfeld von einem Teil unserer Absolventen. Andere gehen zu großen Konzernen.
Achten Arbeitgeber heute verstärkt darauf, dass Arbeit für Mitarbeiter attraktiv und gesundheitsgerecht gestaltet ist?
Prof. Dr. Manfred Mühlfelder: Arbeitgeber haben gar keine Alternative dazu, wenn sie ihre Beschäftigten halten und vor allem junge Nachwuchskräfte gewinnen wollen. Ich glaube, dass Arbeit, die offensichtlich krank macht, in unserer Gesellschaft kaum noch akzeptiert ist. Blicken wir einige Jahrzehnte zurück. Damals war es üblich, dass beispielsweise ein Tischler in Laufe seiner Berufskarriere mehrere schwere Verletzungen an den Fingerkuppen erlitt. In der Montanindustrie, in der Baustoffproduktion oder in Bauhandwerken mussten viele Tausend Beschäftigte pro Jahr wegen einer Staublunge frühzeitig ihren Beruf aufgeben. Heute würde kaum jemand solche Arbeitsbedingungen und solche Gesundheitsrisiken akzeptieren. Junge Menschen wollen und müssen länger gesund bleiben, weil sie aufgrund der demographischen Entwicklung später in den Ruhestand gehen können. Da gehen schlechte Arbeitsbedingungen, die die Gesundheit ruinieren, gar nicht mehr. Deshalb wechseln gerade junge Menschen den Job, wenn ihnen der aktuelle Arbeitsplatz und der Arbeitgeber nicht zusagen. Sie profitieren natürlich vom guten Arbeitsmarkt.
Wie weit sind wir in Deutschland mit Normen und Vorschriften für die psychische Gesundheit am Arbeitsplatz?
Prof. Dr. Manfred Mühlfelder: Viele Vorgaben, aber auch viele Instrumente für die psychische Gesundheit am Arbeitsplatz bietet die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAUA) bereits jetzt an. Das Problem ist, dass dieses Instrumentarium noch nicht in jedem Betrieb zur Anwendung kommt, um psychischen Belastungen vorzubeugen oder um sie zu reduzieren. Das Arbeitsschutzgesetz von 2013 schreibt aber eindeutig vor, dass etwa die psychische Gefährdungsbeurteilung in den Betrieben umzusetzen ist. So müssen beispielsweise Ingenieure nicht nur wissen, wie welche Schadstoffe zu behandeln sind, um Gefährdungen der Beschäftigten zu vermeiden. Sie haben sich auch im Bereich der psychischen Belastungen auszukennen. Allerdings sind hier Arbeitgeber und Führungskräfte gerade in kleinen und mittleren Unternehmen verunsichert. Hinzu kommt, dass das Gesetz bei Verstößen oft keine eindeutigen Sanktionen vorsieht, sondern dass manche Gesundheitsprävention auf der Basis der Freiwilligkeit ablaufen soll. Nehmen Sie die verschärfte Arbeitsüberlassung. Manche Manager wollen finanzielle Sanktionen vermeiden und halten Missstände im Zusammenhang mit dem Arbeitnehmerüberlassungsgesetz lieber unter dem Teppich, um beispielsweise hohe Nachzahlungen bei den Sozialbeiträgen zu umgehen.
Nutzen die Arbeitgeber Schlupflöcher in der Gesetzeslage für psychische Gesundheit?
Prof. Dr. Manfred Mühlfelder: Ich kann im Arbeitsschutzgesetz keine Schlupflöcher entdecken. Sicher wird sich die Arbeitswelt in den kommenden Jahren weiter verändern, die Flexibilisierung wird auf jeder Ebene zunehmen. Ebenso werden die Überwachung und Steuerung von Arbeitern über digitale Tools und Daten größer werden. Diese Transparenz und das flexible Arbeiten gefallen dem einen, dem anderen gefallen sie nicht. Das ist vielleicht auch eine Altersfrage, doch hier müssen wir bis zum Individuum herunter differenzieren. Die Individualisierung gehört zu den zentralen Trends in der Arbeitswelt 4.0. Es gibt also auch in der Prävention gegen psychische Belastungen kein pauschales Hilfsmittel für alle. Vielmehr braucht jeder Einzelne seine individuelle Dosis an Prävention und Hilfe. Manche Menschen können sich besser selbst organisieren und Verantwortung für sich übernehmen, andere Menschen brauchen mehr Führung. Das ist auch ein Generationsthema, und in diesem Prozess brauchen Arbeitgeber Spezialisten für die psychische Gesundheit im Unternehmen.
Wie weit ist die Wissenschaft mit der Forschung zur psychischen Gesundheit im Arbeitsleben? Wo finden sich weiße Flecke?
Prof. Dr. Manfred Mühlfelder: Wir kennen die Situation und die Belastungen in vielen Branchen gut. Handlungsbedarf besteht insbesondere in Gesundheits- und Pflegeberufen, auch im sozialen Bereich sowie in Unternehmen, die eine stark alternde Belegschaft haben. Weitgehend nicht erforscht ist die Situation in den neuen Industrien, bei Leiharbeitern, hochqualifizierten Cloudworkern und in Start-ups. Wir wissen noch nicht, wie weit verbreitet Burn-outs in den Gründerszenen sind. Der Handlungsspielraum wie auch die Arbeitsbelastung sind in jungen Unternehmen häufig sehr hoch. Mancher Gründer mag darauf spekulieren, dass die hohe Mitarbeiterfluktuation ihn davon befreit, sich um die psychische Gesundheit seiner Mitarbeiter zu kümmern. Zwar dienen die großen amerikanischen Internetkonzerne immer noch als Vorbilder, doch inzwischen erfahren wir mehr über die schwierigen Arbeitsbedingungen dort.