Die Zahlen sind eindeutig. Laut Institut der deutschen Wirtschaft in Köln fehlen in Deutschland in der stationären Versorgung bis zum Jahr 2035 über 300.000 Pflegekräfte. Die Versorgungslücke in Gesundheitsberufen ist überall spürbar. Erfahrene Pflegekräfte flüchten in Leiharbeit und lassen sich vom früheren Arbeitgeber meist unter für sie deutlich besseren Bedingungen bezüglich Vergütung und Arbeitszeit wieder anwerben. Viele kehren dem Beruf gänzlich den Rücken und suchen sich neue Betätigungsfelder außerhalb des Gesundheitswesens. Zugleich ist ein Verdrängungswettbewerb um Personal entstanden, der so manche Einrichtung in den kommenden Jahren die Existenz kosten wird, weil sie sich keine „Abwerbeprämien“ leisten kann.
Pflegenotstand ist hausgemacht
Bei genauem Hinsehen wird klar: Einrichtungen des Gesundheits- und Sozialwesens leiden seit Jahrzehnten unter strukturellen personalwirtschaftlichen Versäumnissen. Die Beschäftigten wurden lediglich als Kostenfaktor betrachtet. Schließlich machen Personalkosten in Kranken- und Pflegeeinrichtungen 60 bis 70 Prozent der Gesamtkosten aus, so dass hier Sparpotential gesucht wird.
Immerhin gibt es Diskussionen um bessere Bedingungen für das Pflegepersonal, und durch bessere Bezahlung und Anwerbung von Pflegekräften aus dem Ausland sollen Pflegekräfte entlastet werden. Dennoch hat sich in der dezentralen Binnenstruktur der Krankenhäuser und Pflegeorganisationen seit vielen Jahren zu wenig getan, so dass viele Pflegekräfte weiterhin unter Überlastung, Überforderung, unzureichender Personalplanung und geringer Wertschätzung leiden. Effizienzdruck und Schichtdienste belasten sie.
Das Führungssystem in Krankenhäusern und Altenheimen ist nicht nur antiquiert, sondern oftmals schlicht nicht vorhanden. Pflegedienst- und Stationsleitungen und Ärzte werden für ihre Führungsaufgaben selten qualifiziert; durch defizitäres Führungsverhalten entstehen negative Multiplikatoreffekte.
Prekäre Arbeitsbedingungen erhöhen Krankenstand
Mitarbeitergespräche, die in vielen Unternehmen und in vielfältigen Varianten als Fundament der Mitarbeitermotivation unentbehrlich sind, werden in Krankenhäusern und ambulanten sowie stationären Pflegeeinrichtungen nicht oder halbherzig bis unprofessionell geführt. Auch Mitarbeiterbefragungen mit dem Ziel, die Motivation der Belegschaft herauszufinden und Veränderungsprozesse anzuschieben, führen nur die innovativsten Häuser durch. Experten für Personalmanagement setzen die Einrichtungen kaum ein, so dass Pflegedienst- und Stationsleitungen, die vielfach noch stark operativ eingesetzt werden, keine Unterstützung erhalten. Arbeitsdruck und arbeitsorganisatorische Belastungen erzeugen Konflikte und treiben die Fluktuation und den Krankenstand nach oben. In manchen Kliniken, vorwiegend in städtischen, führen allein fehlende Parkplätze für das Personal zu manifesten Kündigungsabsichten.
Alles in allem führen prekäre Arbeitsbedingungen im Gesundheitswesen zu einem Teufelskreis: Bei hohen Fehlzeiten müssen die verbleibenden Pflegekräfte noch mehr schultern und landen, sofern sie nicht vorher die Reißleine ziehen, im Burn-out. Die meisten Pflegekräfte lieben ihren Beruf und sind stark intrinsisch motiviert. Eine unzureichende Personalpolitik kann diese Basis jedoch nachhaltig unterminieren.
Bausteine gegen binnenstrukturelle Defizite
Sollten die Protagonisten der Gesundheitspolitik mittelfristig, unter anderem durch die verstärkte Anwerbung ausländischer Pflegekräfte und die geplante Krankenhausreform, eine Entspannung in der derzeitigen Krise des Gesundheitssystems hervorrufen können, so sind die binnenstrukturellen Defizite damit noch nicht eliminiert. Um die Misere zu überwinden, brauchen Einrichtungen ein modernes Personalkonzept, das sich auf Mitarbeiterbindung und -gewinnung fokussiert
Folgende Bausteine sollten darin enthalten sein:
1. Mitarbeitergespräche
Was in modernen Unternehmen schon Jahrzehnte etabliert ist, fristet im Gesundheitswesen ein Schattendasein. Es wird verkannt, dass Führungskräfte durch regelmäßige und professionell geführte Mitarbeitergespräche Wertschätzung ausdrücken können. Im Kern zielt der Dialog mit den Beschäftigten darauf ab, Sorgen und Ängste sowie Frustrationspotentiale ernst zu nehmen und diese in die oberen Führungsetagen zu kommunizieren, um für Verbesserung zu sorgen. Damit dieser Dialog gelingt, müssen die Führungskräfte qualifiziert werden.
2. Mitarbeiterbefragungen
Analysieren Einrichtungen etwa alle zwei Jahre die Arbeitszufriedenheit der Belegschaft, erhält das Management ein „Frühwarnsystem“ über die Motivation der Beschäftigten, ihre Bindung an das Unternehmen sowie Kündigungsgefahren und kann negativen Trends entgegensteuern. Regelmäßige Mitarbeiterbefragungen und Zufriedenheitsanalysen steuern das Veränderungsmanagement der Einrichtungen, so dass auf die hohe Änderungsdynamik im Gesundheitswesen reagiert werden kann. Möglich sind auch gelegentliche „Puls-Checks“, kleine Kurzanalysen, die dem Management die Meinung der Belegschaft zu aktuellen Fragen spiegeln.
3. Personal- und Managemententwicklung
Zu einer modernen Personal- und Managemententwicklung gehören Lernangebote für Führungs- und Fachkräfte, die dem Anspruch an lebenslanges Lernen gerecht werden, etwa E-Learnings, Learning-Nuggets, kollegiale Beratung, Coaching und Supervision sowie Mentoring. Dadurch werden Führungskräfte an ihre Leitungsrolle systematisch herangeführt sowie professionell qualifiziert und erhalten arbeitsorganisatorische Freiräume für ihre Führungsaufgaben.
4. Moderne Nachwuchsgewinnung
Pflegeberufe haben ein schlechtes Image: viel Arbeit, wenig Geld. Daher interessieren sich nur wenige Talente der jungen Generation Z, die derzeit auf den Arbeitsmarkt strebt, für Berufe in der Pflege. Neben einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Pflege muss das Image kommunikativ aufpoliert werden. Großangelegte Werbekampagnen der Verbände verpuffen allerdings, wenn es nicht gelingt, Schülerinnen und Schülern den Pflegeberuf durch Projekte in Schulen oder Praktika näherzubringen. Das persönliche Erleben eines Berufsfeldes ist bei der Berufswahlorientierung essentiell. Dafür müssen die Einrichtungen Kapazitäten schaffen.
5. Zielgerichtete Personalakquisition
Durch den demographischen Wandel und die schlechten Arbeitsbedingungen müssen Einrichtungen Talente aktiv zu gewinnen versuchen und vor allem auch die passiv suchenden Talente ansprechen. Dazu müssen sie ihre Kommunikation nach außen, zum Personalmarkt, gut gestalten. Das gelingt zunehmend durch Social-Media-Recruiting. Eine Präsenz in Facebook und Instagram, vielleicht sogar auch TikTok für das Ausbildungsmarketing, ist Pflicht bei der Mitarbeitergewinnung. Dazu gehören „Ausbildungsnuggets“, authentische Videos und Fotos sowie interessante Berichte in den sozialen Medien. Viral geht das Ganze auch dadurch, dass die Beschäftigten selbst die Inhalte posten und liken, sofern sie sich ihrem Arbeitgeber verbunden fühlen. In einer Studie der TH Köln sind immerhin 52 Prozent der Pflegefachkräfte dazu bereit.
Für eine erfolgreiche Personalpolitik fehlen Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen vordergründig sowohl Geld als auch Know-how. Dies zu erhalten oder einzukaufen wird in den kommenden Jahren die Spreu vom Weizen in der Gesundheitsbranche trennen. Ein Human-Resources-Management, das seinem Namen gerecht wird und die menschlichen Ressourcen aktiviert, wird dann erfolgreich sein, wenn es Einrichtungen gelingt, die Kosten für Fehlzeiten, Fluktuation sowie dysfunktionale Organisation zu reduzieren und stattdessen in die zuvor definierten Handlungsfelder zu investieren.
Prof. Dr. Christian Ernst,
Professor für Personalmanagement und Berufsbildung, Technische Hochschule Köln