Die Digitalisierung kann sich negativ auf Kernführungsaufgaben auswirken. Das haben Sie zuerst in der Coronapandemie beobachtet, es lässt sich aber auch auf die Zukunft übertragen. Was haben Sie herausgefunden, und was lässt sich dagegen unternehmen?
Laura Venz: Im Rahmen der Coronapandemie haben viele Führungskräfte weniger Zeit für ihre Aufgaben und müssen immer mehr Dinge gleichzeitig erledigen, vor allem die Führungskräfte, die eine starke Arbeitsintensivierung im Zuge der Pandemie wahrgenommen haben. Das waren in unserer Studie 48 Prozent der befragten Führungskräfte. Ein Fünftel (20 Prozent) nahm keine pandemiebezogene Intensivierung wahr, der Rest eine leichte bis mittlere Intensivierung. Die meisten berichteten von einer höheren E-Mail-Nutzung im Arbeitsalltag sowie von einer höheren individuell wahrgenommenen Überlastung durch berufliche E-Mails.
Wir haben herausgefunden: Je mehr E-Mails Führungskräfte an einem Tag bearbeiten (müssen), umso weniger transformational führen sie. Wir konnten außerdem aufzeigen, dass eine höhere tagesspezifisch wahrgenommene E-Mail-Überlastung mit einer höheren Erschöpfung der Führungskräfte am Ende ihres Arbeitstages in Zusammenhang steht. Die Studie zeigt also, dass eine Zunahme an E-Mail-Kommunikation (die durch die Coronapandemie bei vielen verstärkt wurde) mit weniger positiven Führungsverhaltensweisen und schlechterem Wohlbefinden von Führungskräften assoziiert ist.
In mehreren meiner Datenerhebungen während der Coronapandemie berichteten insgesamt knapp die Hälfte der Befragten, dass im Zuge der Krise ihre berufliche E-Mail-Nutzung zugenommen hat; ebenso viele sagten, diese sei stabil geblieben; ganz wenige (2 Prozent) berichteten von einem leichten Rückgang, der wahrscheinlich bedingt ist durch Kurzarbeit und Lockdowns.
Hängt das beobachtete Verhalten von der Krise ab?
Laura Venz: Nein. Auch Führungskräfte, die unabhängig von der Coronakrise ein hohes E-Mail-Aufkommen haben oder sich durch E-Mails überlastet fühlen, zeigen weniger transformationale Führung und höhere Erschöpfung. Die E-Mail-Nutzung selbst wird aber durch die Digitalisierung befeuert, und die Coronakrise kann durchaus als Digitalisierungs-Booster betrachtet werden. Eine fortschreitende Intensivierung der Arbeit ist dennoch grundsätzlich problematisch. Wenn der Fokus von Führungskräften auf dem Abarbeiten von E-Mails liegt, fällt gute Mitarbeiterführung schnell hinten runter – und die Führungskräfte selbst sind höher beansprucht. Das schränkt ihre Möglichkeiten zu guter Führung ein. Dabei ist gute Führung in Krisenzeiten besonders wichtig.
Was hat die Anzahl der E-Mails mit Führungsverhalten zu tun?
Oliver Meltz: Die wenigsten Führungskräfte haben ausschließlich Führungsaufgaben. Das bedeutet, Führungskräfte sind – wie ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – selbst in die operative Arbeit eingebunden, oder sie haben die Verantwortung für Projekt- und Sonderaufgaben. Je mehr zusätzliche Aufgaben anstehen, desto weniger Zeit bleibt für Führung. Die Anzahl von E-Mails kann dabei, je nach Kommunikationskultur, durchaus auch als Maß für die Menge an Arbeit angesehen werden.
Wenn nur ein begrenztes Zeitfenster für Führungsaufgaben bleibt, dann müssen in diesem auch Dinge wie das Abzeichnen von Urlaubsanträgen und das Bearbeiten von Krankmeldungen erledigt werden. Das Motivieren und Begeistern der eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wird hingegen nicht direkt getrackt und hat keine formale Deadline.
Motivieren „im Vorbeigehen“ mag gelingen, wenn das gesamte Team an einem Ort ist – bei virtueller Zusammenarbeit braucht es andere Wege.
Wieso ist es beim Thema Führung relevant, auf digitale Überforderung zu blicken?
Laura Venz: Weil Führungskräfte eine zentrale Rolle für das Funktionieren der Organisation einnehmen: Im Rahmen der Personalführung haben sie Verantwortung für ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, deren Leistungsfähigkeit und Wohlbefinden.
Gleichzeitig sind sie selbst Mitglieder der Organisation, deren Leistungsfähigkeit und Wohlbefinden schützenswert sind. Gesunde Führung ist ohne gesunde Führungskräfte nicht möglich – und in Zeiten der Digitalisierung spielen E-Mail, Videocall und Co. eine zentrale Rolle für berufliche Gesundheit und Wohlbefinden.
Oliver Meltz: Führen bedeutet auch Organisieren und Kommunizieren. Somit sind Führungskräfte besonders betroffen, wenn sich die Kanäle zur Arbeitsorganisation und Kommunikation durch die Digitalisierung verändern.
Zudem gehört zur Führungsverantwortung auch, effektive und möglichst wenig belastende Prozesse der digitalen Zusammenarbeit und Kommunikation für die Beschäftigten herbeizuführen. Zu bevorzugen sind bereichsübergreifende, möglichst einheitliche Lösungen, um ständige Umstellungen zu vermeiden.
Welche Kanäle reduzieren Überforderung?
Oliver Meltz: Das Medium E-Mail ist nicht grundsätzlich schlecht. Um Überforderung zu vermeiden, sind zwei Dinge wichtig: Ein Kommunikationskanal sollte zur Aufgabe passen, und die Gesamtmenge der (hochpriorisierten) Aufgaben darf nicht zu groß werden. Es stellt sich also immer auch die Frage, ob Überforderung durch die ungeschickte Wahl eines Kommunikationskanals entsteht oder durch schiere Überlastung.
E-Mails können ein passendes Werkzeug sein, um Ideen und Informationen auszutauschen. Steigern lässt sich die Effektivität oftmals durch den Einsatz eines Kommunikationstools. Wenn alle Beteiligten auf einen gemeinsamen Chat und gemeinsame Dateien zugreifen, ist der aktuelle Stand jederzeit ersichtlich. Es besteht dann beispielsweise keine Notwendigkeit, geänderte Dokumente an große Verteiler zu senden.
Aber nicht jede Aufgabe lässt sich bewältigen, ohne miteinander zu sprechen. Wenn etwa eine Lösung ausgehandelt werden soll, empfiehlt sich eine direkte und zeitgleiche Abstimmung, etwa mittels Videotelefonie. Generell gilt: Je komplexer die Aufgabe, desto reichhaltiger sollte das Medium sein.
Was ist transformationale Führung? Wieso ist es nicht gut, wenn sie nicht möglich ist?
Laura Venz: Transformationale Führung bezeichnet ein Führungsverhalten, bei dem die Führungskraft die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter individuell unterstützt, sie motiviert, sich für die Ziele des Teams bzw. der Organisation einzusetzen, und durch ihr eigenes Verhalten als Vorbild fungiert. Transformationales Führungsverhalten ist wissenschaftlich gesehen „gute“, wünschenswerte Führung. Sie steht mit Leistung, Zufriedenheit, Engagement, Commitment und Wohlbefinden der Belegschaft in positivem Zusammenhang. Wenn transformationale Führung nicht möglich ist, leiden diese Bereiche.
Oliver Meltz: Eine Führungskraft, die von der E-Mail-Flut überrollt wird und für ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht „erlebbar“ ist, kann nicht als Vorbild fungieren, nicht begeistern und nicht motivieren.
Oliver Meltz, Arbeits- und Organisationspsychologe, ias-Gruppe, und Prof. Laura Venz, Arbeits- und Organisationspsychologin, Leuphana